Kein Frieden um jeden Preis

Die Deutsch-Ukrainerin Darya Romanenko organisiert mit einem internationalen Team vom rumänischen Grenzort Suceava aus Hilfe für die ukrainischen Kriegsgebiete.

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Die Deutsch-Ukrainerin organisiert mit einem internationalen Team vom rumänischen Grenzort Suceava aus Hilfe für die ukrainischen Kriegsgebiete.

Darya Romanenko (29) war bis vor kurzem eine der lokalen Partnerinnen des EAF-Projektes Gemeinsam für Demokratie als Leiterin eines zivilgesellschaftlichen Zentrums in Sloviansk in der Ostukraine, seit Anfang März in Deutschland. Seit einigen Tagen arbeitet sie für eine internationale Hilfsorganisation. Aktuell befindet sie sich im rumänischen Suceava nahe der ukrainischen Grenze. Von dort organisiert ihr Team Hilfe für die Kriegsregionen der Ukraine.

Darya, als wir dich letztes Mal hörten und sahen, hattest du gerade eine lebensgefährliche Flucht mit deinem Vater und deiner Großmutter aus Charkiv über Rumänien nach Kehl am Rhein hinter dir. Jetzt bist du in Suceava in Rumänien. Wie geht es dir?

Ich bin hier in Sicherheit im Gegensatz zu den Frauen, die in der Ukraine geblieben sind. Sie sind meine Heldinnen.

Was genau machst du in Suceava?

Ich bin seit letzter Woche als Koordinatorin für das gesamte Ukraine-Projekt meiner Organisation hier. Das Projekt startete vor dem großen Krieg mit Fokus auf den Donbas, entsprechend wurde es jetzt an die aktuelle Situation angepasst. Wir haben Suceava ausgewählt, weil es sehr nahe an der Grenze mit der Ukraine liegt und sehr viele Geflüchtete in der Anfangsphase des Krieges hierhergekommen sind. Viele nutzen Rumänien als Transitland. Für uns ist das ein guter Standort für grenzüberschreitende Aktivitäten. Wir liefern Hilfsgüter in die Ukraine. Wir bekommen Anfragen von staatlichen Institutionen dort, von Krankenhäusern, Schulen, von Regionalverwaltungen, aber auch von unseren Partnern, die noch in der Ukraine arbeiten. Wir liefern Medikamente, Hygieneartikel, auch Lebensmittel. Wir haben tapfere rumänische Fahrer, die die Transporte übernehmen, weil die ukrainischen Männer das Land wegen der Wehrpflicht nicht verlassen dürfen. Wir arbeiten in den Flüchtlingseinrichtungen, aber auch im Kindergarten, wo es jetzt eine Gruppe ukrainischer Kinder gibt. Wir haben ein Team von Psychologinnen hier, leisten sozusagen psychologische Erste Hilfe, wobei uns die Kinder besonders am Herzen liegen.

Aus welchen Gründen?

Ich sehe die Leere in den Augen dieser Kinder und muss keine Psychologin sein, um zu verstehen, dass der Krieg bereits eine gesamte Generation lebenslang traumatisiert hat. Viele sprechen nicht mehr; sie kapseln sich ab, haben traumatische Erinnerungen, mussten wochenlang in den Metro-Stationen von Charkiv leben. Es ist offensichtlich, dass die Kinder, anders als Erwachsene, noch keine Resilienzmechanismen entwickelt haben, um solche Erlebnisse zu bearbeiten. Daher ist die psychosoziale Betreuung von Geflüchteten neben der Unterbringung und der medizinischen Versorgung, ein sehr ernsthaftes Problem, das in den aufnehmenden Ländern viel stärker als bisher bedacht werden muss. Ich habe sehr traurige Szenen an der Grenze gesehen, Frauen die sich von ihren Männern, Kinder, die sich von ihren Vätern verabschieden. Die Frauen fahren ins Nirgendwo mit ihren Kindern. Mit dem ersparten Geld, das wahrscheinlich nicht lange ausreichen wird. Sie kommen irgendwo in der Fremde in eine Flüchtlingsunterkunft und wissen nicht, wie es weitergeht – mit ihnen, mit den Kindern, mit der vom Krieg zerrissenen Familie. Dieses Gefühl von Verlorensein sehe ich oft in den Augen dieser Frauen. Kein Mensch sollte jemals durch so etwas gehen müssen. Manchmal reicht meine Empathie nicht mehr aus für all diese Schicksale.

Kürzlich hörten wir noch vorsichtig optimistische Töne von den jüngsten russisch-ukrainischen Verhandlungen in der Türkei. Wie siehst du das?

Es gibt keinen Grund für Optimismus. Denn Russland ist absolut kein vertrauenswürdiger Verhandlungspartner. Das haben wir im Donbas und auf der Krim gesehen. Was mich aufregt: Wenn man über die Ukraine spricht, dann über die Zerstörung, über die humanitäre Krise, aber man vergisst auch nicht, die rechtsradikalen Asow-Bataillone zu erwähnen, die jetzt die einzige Hoffnung für die Befreiung von Mariupol sind. Und dann sieht man die Marionetten-Show einer Journalistin im russischen Fernsehen, die mit einem lächerlichen Plakat vor die Kamera tritt und gegen den Krieg protestiert. Das war hundert Prozent gestellt. Der Leiter des russischen Staatsfernsehens steht selbst unter Sanktionen, und jetzt geht diese Marina Ovsyannikova in die Öffentlichkeit und spricht sich gegen die Sanktionen aus, weil sie die russische Bevölkerung hart treffen. Für mich ist das eine ganz offensichtliche Manipulation, die aber im Westen sehr gut ankommt. Man sorgt sich um die Bevölkerung in Russland und um das Schicksal der Zivilgesellschaft dort. Dieses asymmetrische Verhältnis in der Wahrnehmung ist für mich als Deutsch-Ukrainerin schwer verkraftbar. Wieder ist Europa bereit, dem kriegsverbrecherischen Russland alles zu verzeihen, wenn es darum geht, den Frieden herzustellen und vor allem irgendwann wieder die wirtschaftliche Kooperation aufzunehmen. Das ist unfair. Denn für die Ukraine gibt es dieses kollektive Verständnis nicht. Ich bin mit 15 Jahren nach Deutschland gekommen, da wussten meine Klassenkamerad*innen oder Lehrer*innen nicht, wo die Ukraine liegt. Und heute kennt jeder Charkiv oder Mariupol aus den Nachrichten.

Für mich waren die Europäische Union und Deutschland, Institutionen, die nach dem Zweiten Weltkrieg auf gemeinsamen Werten aufgebaut wurden: Menschenrechte, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Souveränität. Es ist daher traurig für mich, dass das Wirtschaftliche diese Werte überwiegt, Werte, für die die Menschen 2014 auf den Maidan gegangen sind und die jetzt einfach hintenangestellt werden. Russland führt einen zivilisatorischen Krieg gegen diese Werte. Das sollte uns allen klar sein.

Also kein absehbarer Frieden?

Nein. Ich höre immer wieder Stimmen aus Deutschland und auch aus Frankreich, dass man den Frieden um jeden Preis schließen muss, um die Menschen aus Mariupol und Charkiv zu retten. Dafür muss die Ukraine ihr Territorium opfern. Aber meine Oma sitzt seit dem ersten Tag des Krieges im Keller des Hauses, das meine Urgroßeltern nach dem Zweiten Weltkrieg für die ganze Familie gebaut haben. Sie macht ihr Hörgerät aus und steckt ihren Kopf zwischen die Kissen, damit sie nicht hört, wie das ganze Haus zittert. Sie hat kein Wasser und keine Lebensmittel mehr. Aber sie sagt, dass sie lieber hier sterben als das Haus und Charkiv aufgeben will.

Anmerkung der Redaktion: Dieses Interview wurde am 30. März 2022 geführt, bevor das Massaker in Butscha der Weltöffentlichkeit bekannt wurde. Außerdem haben wir erfahren, dass Daryas Großmutter Charkiv inzwischen verlassen hat und in Deutschland angekommen ist.

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