Cécile Weidhofer stellt vor, wie wir länderübergreifend an Empfehlungen arbeiten und zeigt Maßnahmen aus Frankreich, wie ein kommunalpolitisches Amt für Frauen und Menschen in der Rush Hour des Lebens attraktiver werden kann.
Frankreich als Paradebeispiel: Das „loi sur la Parité“
Gleichberechtigung in der Politik – Frankreich dient dafür oft als Paradebeispiel. Im Jahr 2000 wurde das Paritätsgesetz eingeführt: Politische Parteien müssen sicherstellen, dass Frauen und Männer auf Kandidat*innenlisten für Wahlen in etwa gleichmäßig vertreten sind. Das „loi sur la Parité“ gilt in unterschiedlichem Maßen für Wahlen auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene und wurde seit seiner Verabschiedung mehrfach weiterentwickelt. Mit Erfolg: 1995 betrug der Frauenanteil in den kommunalen Vertretungen 21,7%. Nach der letzten Kommunalwahl 2020 lag der Anteil der weiblichen Ratsmitglieder bei 42,2%[1]. Darüber hinaus hat das Paritätsgesetz das Bewusstsein für Geschlechterungleichheit geschärft und auch dort indirekt gewirkt, wo sie keine Gültigkeit hatte: Vor der Verabschiedung des Gesetzes wurden 7,5% der Rathäuser von Frauen geführt. Heute sind es fast 20 %. Trotzdem sind Frauen in kommunalpolitischen Führungspositionen weiterhin stark unterrepräsentiert. Wir verfolgen die Entwicklungen in Frankreich genau.
Internationale Zusammenarbeit für mehr Frauen in der Kommunalpolitik
„Feministische Außenpolitik gründet auf der Überzeugung, dass alle Menschen die gleichen Rechte genießen und die gleichen Freiheiten und Möglichkeiten verdienen“, so steht es in den Leitlinien zur feministischen Außenpolitik des Auswärtigen Amts. Diese Überzeugung teilen wir mit unseren französischen Partner*innen und setzen uns daher gemeinsam dafür ein, dass sich Menschen in all ihrer Vielfalt für ein kommunalpolitisches Amt entscheiden (können). Insbesondere durch unsere Zusammenarbeit mit dem Observatoire de la parité d´Occitanie, (deutsch etwa Paritätische Beobachtungsstelle der Region Okzitanien), deren Schwerpunkt es ist, Daten zu erheben und Analysen und Handlungsempfehlungen für mehr Frauen in der Politik zu veröffentlichen.
Wir setzen uns dafür ein, dass alle Menschen gleichermaßen am gesellschaftlichen, politischen Leben teilhaben können. Im Mittelpunkt unserer Zusammenarbeit steht daher der Austausch zwischen französischen und deutschen Kommunalpolitikerinnen, mit dem Ziel voneinander zu lernen und den Anteil von Frauen in der Politik in beiden Ländern zu erhöhen. Wir organisieren Formate, in denen sich deutsche und französische Kommunalpolitikerinnen austauschen können. Wir erarbeiteten gemeinsame Handlungsempfehlungen, um den Anteil von kommunalen Mandatsträgerinnen beiderseits des Rheins zu erhöhen. Gemeinsam haben wir darüber nachgedacht, was wir auf internationaler Ebene tun können und verschiedene Handlungsempfehlungen für die EU erarbeitet: Dazu gehören Vorgaben und Anreize für Datenerhebungen, kontinuierliche Thematisierung der Geschlechterrepräsentanz, Verankerung der Thematik in Projekt,- und Forschungsförderung der EU uvm.
Maßnahmen, von denen wir lernen können
Schon jetzt ist Frankreich aber in der Gestaltung des kommunalpolitischen Amts in manchen Bereichen fortschrittlicher als Deutschland und setzt Maßnahmen um, die das Amt attraktiver machen können. Drei Maßnahmen sind besonders hervorzuheben. Sie alle haben gemeinsam, dass sie eine kommunale Praxis ermöglichen, die sich besser mit den beruflichen und familiären Verpflichtungen von Mandatsträgerinnen – insbesondere in der Rush Hour des Lebens- vereinbaren lässt.
Ein*e Gemeinderät*in kann per Vollmacht abstimmen
Nimmt in Deutschland ein Ratsmitglied an einer Ratssitzung nicht teil, geht dessen Stimme verloren. Dies kann zulasten der eigenen Fraktion gehen, vor allem dort, wo die Mehrheiten im Rat knapp sind. Und es kann kommunalpolitischen Nachwuchs abschrecken: Denn besonders für Menschen mit familiären Verpflichtungen und/oder mit unregelmäßigen Arbeitszeiten und -Orten sind die starren Strukturen der kommunalpolitischen Abläufe ein Hindernis. Der Ruf nach mehr Flexibilität und Realitätsnähe nimmt zu. Was bei uns (noch) nicht möglich ist, ist in Frankreich seit 1996 selbstverständlich: Ein Ratsmitglied, das an einer Ratssitzung nicht teilnehmen kann, kann ein Mitglied seiner Wahl – nicht zwingend aus der eigenen Fraktion - bevollmächtigen, in seinem Namen abzustimmen. Eine Begründung für die Abwesenheit ist nicht erforderlich. Die Vollmacht muss lediglich den Namen des bevollmächtigten Ratsmitglieds und die Sitzung, in der sie gültig ist, enthalten. Die Vollmacht kann bis zu drei aufeinanderfolgende Sitzungen gültig sein und jederzeit widerrufen werden. Auch wenn sie in der Regel vor der Sitzung des Gemeinderats ausgestellt wird, kann die Vollmacht während der Ratssitzung ausgestellt werden, wenn ein Ratsmitglied plötzlich z.B. aus familiären und beruflichen Gründen weg muss.
Professionalisierung der Kommunalpolitik – Weiterbildung von Mandatsträger*innen
Französische kommunale Mandatsträger*innen haben Anspruch auf 18 Tage Fortbildung, die sie während ihrer Amtszeit nutzen können. Die kommunalen Vertretungen müssen innerhalb von drei Monaten nach ihrer konstituierenden Sitzung über die zu diesem Zweck bereitgestellten Mittel beraten. Sie legen die Schwerpunkte der Mittel fest. Jedes Jahr wird im Rat über die Fort- und Weiterbildung der Ratsmitglieder debattiert. Der Gesamtbetrag der Ausgaben für Fortbildungsmaßnahmen (z.B. Teilnahmegebühr, Fahrt- und Übernachtungskosten) darf nicht weniger als 2 % des Gesamtbetrags der Aufwandsentschädigungen, die den Kommunalpolitiker*innen gewährt werden können, betragen. Diese Kosten gehören zu den Pflichtausgaben der französischen Kommunen.
Auch in Deutschland haben kommunale Mandatsträger*innen die Möglichkeit, an Fortbildungen teilzunehmen. Ehrenamtliche Kommunalpolitiker*innen engagieren sich neben ihren regulären Berufs- und/oder Familienverpflichtungen. Zeitliche Einschränkungen erschweren ihnen, zusätzliche Zeit für Fortbildungen aufzubringen. Es geht den französischen Kommunalpolitiker*innen nicht anders. Es gibt jedoch einen Unterschied: die Teilnahme an Fortbildungen und die während der Amtszeit erworbenen Kompetenzen können anerkannt werden , was die berufliche Integration nach der Amtszeit fördern kann.
Anerkennung der Kompetenzen von Mandatsträger*innen
Insbesondere für Bürgermeister*innen stellt sich in Frankreich und in Deutschland die Frage nach der „Zeit danach“. Wer vor der Wahl berufsstätig war und nicht für die Dauer des Mandats freigestellt wurde, muss sich mit der Frage nach einer möglichen beruflichen Umschulung befassen, wenn die Rückkehr in den alten Job nicht möglich ist. Bürgermeister*in ist Chef*in der Verwaltung und für die Gemeinde verantwortlich. Dennoch, erhält er/sie keine faktische Anerkennung. Das Mandat auf lokaler Ebene ist zeitaufwendig und wird oft als Karrierebremse empfunden. Dabei sammeln kommunale Mandatsträger*innen im Laufe ihrer Amtszeit einen reichen Erfahrungsschatz: Krisenmanagement, fachliche Kompetenzen, Führung, Kommunikation, Projektmanagement u.v.m. Unter anderem um das kommunalpolitische Engagement mehr wertzuschätzen gibt es in Frankreich seit 2019 die Möglichkeit, sich die Erfahrungen als kommunale*r Mandatsträger*in offiziell anerkennen zu lassen. Die Kommunalpolitiker*innen durchlaufen ein Verfahren und erhalten einen Abschluss, der die im Rahmen des Mandats erworbenen Erfahrungen und Kompetenzen bescheinigt. Diese Zertifizierung, die „Validation des acquis de l'expérience (VAE), steht allen offen, die mindestens ein Jahr Berufserfahrung, die für die angestrebte Qualifikation unmittelbar relevant ist, bzw. für ehrenamtliche kommunale Mandatsträger*innen. Die VAE ist eine von mehreren Instrumenten zur Bewertung und Anerkennung von Kompetenzen.
Theorie und rechtliche Ansprüche reichen jedoch auch in Frankreich nicht aus. Im Jahr 2017 führte der französische Senat[2] eine Befragung zum Status der kommunalen Mandatsträger*innen durch. Fast 10.000 Kommunalpolitiker*innen - Bürgermeister*innen, Landrät*innen, Mitglieder von kommunalen Vertretungen - darunter 37 % Frauen - haben an der Umfrage teilgenommen. Das Ergebnis dieser Umfrage bestätigte eine "Berufungskrise". 45 % der Befragten beabsichtigten, nach Ablauf ihres Mandats aus der Politik auszuscheiden. 27,1 % der Befragten gaben als Grund dafür die Unvereinbarkeit zwischen Amt, Familie und Beruf an. Seitdem hat Frankreich insbesondere im Hinblick auf die Weiterbildung und die Anerkennung der Leistungen der kommunalen Mandatsträger*innen Reformen durchgeführt. Angesichts der Herausforderungen, denen auch Kommunalpolitiker*innen in Deutschland begegnen, wäre eine bundesweite überparteiliche Umfrage wünschenswert. Ob und wie die Rahmenbedingungen zur Ausübung des kommunalpolitischen Mandats in den nächsten Jahren zeitgemäßer, familienfreundlicher und innovativer werden, hängt letztendlich zu einem gewissen Grade die Zukunftsfähigkeit der deutschen Kommunen.
Gleiche Herausforderung, gemeinsame Lösung: Wir machen weiter
In keinem Land der Welt wurde Gleichstellung verwirklicht. Wir sehen: die Herausforderungen sind gleich, die Lösungen können wir gemeinsam erarbeiten. Und wir brauchen europäische und globale Antworten. Auch wir werden uns dafür weiterhin einsetzen. In einem geplanten Projekt gemeinsam mit der Region Okzitanien arbeiten wir an einer nachhaltigen Veränderung der politischen Kultur zu einer „Kultur der Gleichberechtigung“. Fokus wird dabei auch sein, wie die Förderung der politischen Partizipation von Frauen mit grundlegenden Fragen der Demokratieförderung verbunden und auch anti-demokratischen und anti-feministischen Tendenzen Einhalt geboten werden kann.
[1] Das Paritätsgesetz greift nur in Kommunen ab 1000 Einwohner*innen. Frankreich besteht allerdings zu knapp über 71% aus Kommunen unter 1000 Einwohner*innen.
[2] « Faciliter l'exercice des mandats locaux : enjeux et perspectives » (senat.fr)