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Alltag, Freude, Trauer – Reise in ein Land im Krieg

EAF-Senior Advisor Dr. Helga Lukoschat reiste Anfang Juli 2023 in die Ukraine. Hier berichtet sie über Erfahrungen, Begegnungen und die Notwendigkeit, ukrainische Frauen in ihrem Engagement, aber auch in Vorbereitung auf den Wiederaufbau zu unterstützen.

Anfang Juli 2023 habe ich die Ukraine zum zweiten Mal besucht, dieses Mal den Süden: Odessa und die 60 km nordwestlich gelegene Kreisstadt Dobroslav, auf Einladung von Bürgermeisterin Lyudmyla Prokopechko. Wir hatten in der EAF erneut Spenden für die Partnerinnen bzw. ihre Organisationen gesammelt. Ich hatte die Freude und Ehre diese nun persönlich zu überbringen.

In Odessa ist Natalya Deliyeva, Vorsitzende der Frauenorganisation Diya, in der humanitären Hilfe sowie in der Unterstützung von Freiwilligenverbänden und der Armee aktiv. Bürgermeisterin Lyudmyla Prokopechko wird in internationalen Kontakten von der Charkiver Soziologin Yuliia Siedaia unterstützt. Alle drei waren Partnerinnen im Projekt „Gemeinsam für Demokratie“, das die EAF Berlin in Kooperation mit der Konrad-Adenauer-Stiftung durchgeführt hat.  

Kultur und Lebensfreude als Widerstandskräfte

Wie fühlt es sich an, in ein Land zu reisen, das sich im Krieg befindet? Das wurde ich in den letzten Tagen oft gefragt. Die prägendste Erfahrung für mich: Alltägliches Leben, Freude und Trauer, Schönheit und Zerstörung liegen unvorstellbar dicht beieinander. So musste in Dobroslav ein Stadtfest wegen Luftalarm abgebrochen werden – wir fanden uns im Schutzkeller wieder. Auch ereilte uns an dem Abend die Nachricht, dass der Bruder einer Stadtangestellten, 27 Jahre jung, gerade einmal zwei Monate im Krieg, an der Front gefallen war. Dobroslav ist glücklicherweise (noch) nicht Opfer eines Raketen- oder Drohnenangriffs geworden. In Odessa hingegen liegt vor allem der Hafen ständig im Visier der russischen Angreifer.

Odessa ist eine lebendige, schöne Stadt. Das beeindruckende, der Dresdner Semperoper nachempfundene Opernhaus, ist weiter geöffnet, sodass wir eine Aufführung der Carmina Burana besuchen konnten. Chor, Sänger*innen und Tänzer*innen boten Spitzenleistungen und erhielten zurecht Standing Ovations im fast auf den letzten Platz besetzten Haus. Die Aufführung begann allerdings um 16 Uhr, da die Angriffe in der Regel nachts erfolgen. Die Sicherheitsvorgaben werden vorab angesagt; das Publikum bleibt gelassen und diszipliniert.

Die Haltung, die eigene Kultur und Lebensart so gut es geht beizubehalten, bildet so auch einen Teil der Widerstandskraft, der Courage und der Entschlossenheit, mit der die Bevölkerung ihr Land verteidigt. „Wir sind die zweite Front“ hörte ich von vielen Menschen, die in Stadtverwaltung oder in der Infrastruktur tätig oder zivilgesellschaftlich engagiert sind. Doch auch ein Restaurantbesitzer in Odessa erklärte: das Restaurant offen zu lassen und feine italienische Küche zu präsentieren, sei auch aus dem Trotz heraus geboren, dem russischen Zerstörungswahn nicht das Feld zu überlassen.

Materielle Hilfe und menschliche Beziehungen

Mein Besuch stand nicht zuletzt im Kontext des neuen Projekts der EAF Berlin „She Can – Frauen in ukrainischen Kommunen stärken“, welches an unser bisheriges Engagement anknüpft. In dem vom Auswärtigen Amt geförderten Vorhaben sind wir Kooperationspartnerin der zivilgesellschaftlichen Organisationen Austausch e.V. und DDialogue for Understanding (D4U). Ziel ist es, mit fünf ukrainischen Städten bzw. Regionen kommunale Partnerschaften anzubahnen und Netzwerke zwischen kommunalpolitisch und zivilgesellschaftlich aktiven Frauen in Deutschland und in der Ukraine zu knüpfen. 

Denn der persönliche Austausch ist zentral. Nicht nur, um die Ukraine nach Ende Krieges beim Wiederaufbau zu unterstützen. Sondern auch jetzt, in dieser wieder sehr kritischen Zeit. Auch damit wir in Deutschland, wie die Partnerinnen immer wieder betonten, „des Kriegs nicht müde werden“. Davor besteht durchaus Sorge. „Wir sind sehr dankbar für Eure materielle Hilfe. Das ist das eine. Das andere sind die menschlichen Beziehungen“, so die eindrücklichen Worte einer Stadträtin in Dobroslav.

Dieses ländlich geprägte Städtchen und Zentrum eines Siedlungsgebiets mit rund 16.000 Einwohner*innen ist eine der Kommunen, für die wir eine deutsche Partnergemeinde suchen. Das Gebiet ist erst im Zuge der Dezentralisierungsreform 2020 entstanden. Seitdem hat Bürgermeisterin Lyudmyla Prokopechko, eine der führenden Aktivistinnen in Odessa im Maidan 2013/14, viel erreicht. Um die Lebensqualität zu verbessern wurden Parks angelegt, Straßen gepflastert, Gewerbe angesiedelt. In einem bisher vernachlässigten Dorf werden jetzt auf großen Hektarflächen Rosen angebaut, und es ist ein buchstäblich florierender Handel entstanden. Auch die Ansiedlung von Windparks läge auf der Hand. Die Flächen sind groß und vom Schwarzen Meer weht beständig der Wind. Doch noch fehlt es an Investoren.

Neue Chancen für politische Entscheidungsträgerinnen

Mit der Dezentralisierung sind kleinere, weniger machtvolle Einheiten entstanden. Frauen bekamen die Chance auf Führungspositionen. Zudem wurde im Zuge der Kommunalwahlen 2020 eine Geschlechterquote von 40 Prozent für die Wahllisten für die Stadt- und Gemeinderäte eingeführt. Aber: Diese Vorgaben werden noch zu oft von den Parteien unterlaufen bzw. nur pro forma eingehalten. Mir wurde von einzelnen Fällen berichtet, bei denen Frauen erhebliche Geldsummen angeboten wurden, damit sie ihren Platz „freiwillig“ räumen.

Es bleibt viel zu tun. Doch die Aussicht auf die EU-Mitgliedschaft bildet einen wirkungsvollen Anreiz um die Gleichberechtigung der Geschlechter zu verbessern und eine aktive Gleichstellungspolitik zu betreiben. So will die ukrainische Regierung künftig „Gender Advisors“ in den Kommunen einsetzen, allerdings im Ehrenamt. Die Erfahrungen mit kommunalen Gleichstellungsbeauftragten in Deutschland, die Teil des institutionellen Gefüges sind und in der Regel hauptamtlich arbeiten, stieß daher auf großes Interesse bei meinen Gesprächspartnerinnen.

Neben den bestimmenden Themen, wie der Unterbringung der Binnengeflüchteten, dem Aufrechterhalten des Wirtschaftslebens und der medizinischen Versorgung, finden daher auch diese Anliegen Beachtung. Die Bekämpfung von häuslicher Gewalt, die im letzten Jahr weiter zugenommen hat, steht auf der Tagesordnung weit oben. In Dobroslav würde die Stadtverwaltung gern mobile Teams schaffen, die vor Ort die Familien aufsuchen. Eine Zufluchtsstätte für betroffene Frauen und Kinder ist geplant – angesichts der Wohnungsknappheit jedoch kein leichtes Unterfangen. Die psychosoziale Betreuung von Angehörigen der Armee, die aus dem Krieg zurückkehren und die Behandlung von Traumata sind weiterhin große Themen. Der Ukraine fehlt ausgebildetes Personal: Psycholog*innen und Ärzt*innen werden allenfalls im Schnellverfahren geschult. Auch hier könnten deutsche Kommunen durch fachliche Hinweise oder Aufnahme und Behandlung von betroffenen Personen unterstützen, sofern sie über entsprechende Einrichtungen verfügen.

30 Prozent Frauen in den Streitkräften

Der Armee und den Freiwilligenverbänden wird enorme Wertschätzung entgegengebracht, in den persönlichen Begegnungen ist das ganz deutlich zu spüren. „Danke, dass ihr uns verteidigt“, heißt es dann aus tiefer Überzeugung. Der Krieg Russlands gegen das Land dauert nun schon über 500 Tage. Mir fielen im Stadtbild von Odessa die großen Plakate ins Auge, auf denen für die Armee geworben wird, durchaus martialisch, ein wenig im Stil amerikanischer Action-Filme. Auf jedem fünften Plakat, so meine Schätzung, eine Frau. Ihr Anteil in den Streitkräften liegt bei circa 30 Prozent.

Frauen sollten eine starke Rolle im Wiederaufbau spielen

Frauen engagieren sich an allen Fronten. Wenn wir wollen, dass die Ukraine eine demokratische und wirtschaftlich gute Zukunft haben soll, ist es zentral, dass Frauen im Wiederaufbau eine starke Rolle spielen, auch und gerade in den politischen Führungspositionen.

Die Ukraine gehört zu Europa bzw. in die EU, sie gehört in die Nato. Auch wenn ein Beitritt gegenwärtig aus vielen Gründen nicht möglich ist, müssen die Sicherheitsgarantien der G7 Staaten stark und robust sein. Wir dürfen in unserer Aufmerksamkeit und Unterstützung nicht nachlassen – auf allen Ebenen: militärisch, finanziell, menschlich. Der Preis, den Europa und auch Deutschland anderenfalls mittel- und langfristig zahlen würden, wäre sehr, sehr hoch.

Veröffentlicht am: | Autorin : Dr. Helga Lukoschat

Eindrücke aus der Ukraine

Autorin
Dr. Helga Lukoschat

Dr. Helga Lukoschat ist ehrenamtliches Vorstandsmitglied und Senior Advisor der EAF Berlin.

Mehr über Helga Lukoschat

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