Was im Iran geschieht, ist feministische Weltgeschichte. Und zwar unabhängig davon, wie der Fortlauf dieser Geschichte ist. Denn was die Frauen im Iran seit dem Herbst 2022 beweisen, ist, dass der innere Drang von Frauen nach Freiheit, nach sexueller Selbstbestimmung und ihr Anspruch auf die fundamentalen Frauenrechte nichts ist, was vom »Westen« kommt. Nach Jahrhunderten der Kolonisierung der Region des sogenannten Nahen Ostens wird in Europa und in Nordamerika noch immer das Bild von Gesellschaften gezeichnet, die rückständig seien. Diese Message erreicht uns nicht expressis verbis (außer sie kommt von ganz rechts). Sondern sie ist verpackt in Bildern, die uns über die Tagesschau erreichen und die Cover von Nachrichtenmagazinen schmücken. Auf denen man immer die chaotischen, vollbepackten Basare sieht, nie die modernen Büroräume. Auf denen man Frauen in unterwürfigen oder unscheinbaren Posen sieht, aber nie zupackend, entschlossen. Diese Message ist verpackt in politischen Debatten, zum Beispiel, wenn der ehemalige Außenminister Heiko Maas in einer Rede im Bundestag zum Abzug der Bundeswehr im Juni 2021 erklärt, was Deutschland in Afghanistan "erreicht" habe. Die afghanische Zivilgesellschaft sei "in dieser Zeit selbstbewusster" und sich ihrer Rechte "bewusst" geworden. Menschenrechte seien in der Verfassung verankert, Frauen führten ein "viel freieres Leben". Hier ist sie wieder, die implizite Message: Wir, der Westen, bringen denen, im Nahen Osten, Freiheit, Menschenrechte, Frauenrechte. Wir bringen ihnen etwas bei.
Nun zeigen es die Menschen, vor allem die Frauen, im Iran (und natürlich nicht nur dort!): Wir brauchen euch nicht, um zu verstehen, was Menschenrechte sind. Sie verstehen es nicht nur, sie setzen ihr Leben aufs Spiel, um diese endlich wieder zu erlangen. Das Netz ist geflutet von Bildern mit Schülerinnen, die zivilen Widerstand leisten. Auf Bildern sieht man, wie zuvor beschrieben, junge Schülerinnen von hinten, den Hijab abgenommen, die langen dunklen Haare über ihre Rücken fallend, wie sie sich an den Händen nehmen. Auf die Schultafel haben sie geschrieben: "Für meine Schwester, deine Schwester, unsere Schwestern". Sisterhood in ihrer Bestform, gezeigt von Mädchen, die in einen Staat geboren sind, der ihnen genau das von klein auf verboten hat. Und trotzdem sind sie groß geworden, mit dem Wissen von Generationen von Frauen vor ihnen, dass der einzige Weg für Frauen, frei zu sein, die Solidarität mit- und untereinander ist.
So wie die Geschichte einer Schülerin aus dem ARD Weltspiegel. In ihrer Schulklasse nimmt sie ihren obligatorischen Hijab ab, und der Lehrer droht ihr, dafür von der Schule geworfen zu werden. Als er nach ihrem Namen fragt, antwortet sie: Mahsa Amini. Und dann stehen alle anderen Schülerinnen auf und sagen: Wir heißen auch Mahsa Amini.
Diese Solidarität, und das ist neu, zieht sich durch alle Altersgruppen, durch alle Ethnien, durch alle Schichten – und sogar durch alle Geschlechter: Frau, Leben, Freiheit, der "weiblichste und zivilisierteste Slogan, der Frauen und Männer von Teheran bis Kurdistan vereint", so drückte es die Frauenrechtlerin Mansoureh Shojaee gegenüber dem Handelsblatt aus. Es ist, als ob 43 Jahre gewaltsames Patriarchat dieses fast schon ursprüngliche Wissen um die Stärke der Solidarität, der Sisterhood, nicht nur nicht haben ausmerzen können – sondern sie in diesen Frauen und Mädchen haben wachsen lassen. Der Tod von Jina Amini hat diese Kraft bei vielen Menschen entfesselt.
In der ganzen Region schauen Menschen wie gebannt auf das, was im Iran geschieht. Anders als wir im Westen sind sie dort nicht überrascht, dass die Iraner*innen für Frauenrechte, für Menschenrechte kämpfen. Sondern sie sind überrascht, dass es Wirkung zeigt, dass das Regime wackelt, und vor allem, dass die Menschen nicht aufhören zu kämpfen – egal, wie brutal die Proteste niedergeschlagen werden. Sie sehen, dass Regimekräfte auf der Straße wahllos auf Menschen und sogar in Häuser hineinschießen. Sie sehen, dass junge Mädchen, die den Hijab abnehmen, verhaftet werden, gefoltert, vergewaltigt und getötet.
Sie sehen aber auch, dass die Familien dieser jungen Menschen nicht still sind, sondern alle anderen dazu aufrufen, weiterzumachen. So wie die Mutter von Nika Shakarami, der bereits erwähnten 15-Jährigen, die brutal umgebracht und zuvor vermutlich gefoltert und vergewaltigt wurde. Ihre Mutter hielt am 2. Oktober, Nikas Geburtstag, und wenige Tage nach ihrem Tod, ein Bild ihrer Tochter in die Kamera und gratulierte ihr zu ihrem Geburtstag und sie war stolz, dass ihre Tochter "Märtyrerin" für die Freiheit geworden ist.«
(Auszug aus Gilda Sahebi: Unser Schwert ist Liebe - Die feministische Revolte im Iran, 2023, S. 130ff.)