Ukrainische Flagge vor blauem Himmel.

Der Faktor Zeit ist entscheidend

Eine politische Einschätzung von Brigitta Triebel: Nur eine militärisch starke Ukraine kann Russland an den Verhandlungstisch zwingen.

Nur eine militärisch starke Ukraine kann Russland an den Verhandlungstisch zwingen. Dafür braucht sie schnellstmöglich die entsprechenden Waffen, um sich verteidigen zu können. Deutschland hat hier eine besondere historische Verantwortung. Eine politische Einschätzung von Brigitta Triebel.

Die Stärkung und Vernetzung aktiver Frauen aus Kommunalpolitik und Zivilgesellschaft in der östlichen Ukraine war Ziel des gemeinsamen Projektes zwischen EAF und dem Auslandsbüro der Konrad-Adenauer-Stiftung in Charkiv. Das Engagement der Frauen galt uns als ein Baustein für demokratische Stabilität in einer Region, die von Krieg, Wirtschaftskrise und Korruption geprägt gewesen ist. Bereits seit 2014 haben Frauen in dieser Krisenregion nicht nur wichtige gesellschaftliche und politische Funktionen übernommen, sondern sie waren häufig die Vertreterinnen von notwendigen Veränderungen vor Ort, ob in der humanitären Hilfe nach der kampfintensivsten Phase im Donbas 2014/2015, bei der Stärkung einer proukrainischen Zivilgesellschaft oder als Kommunalpolitikerin in der Dezentralisierungsreform.

Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine verhindert eine Fortsetzung des Projektes. Die Städte, in denen wir mit unseren ukrainischen Partnerinnen noch im Februar dieses Jahres Seminare planten, wie Kramatorsk, Slowjansk, Charkiv oder Dnipro, sind nun Hauptzielen der russischen Offensive. Die russische Führung hatte schon 2014 den ukrainisch kontrollierten Donbas als Teil des eigenen Herrschaftsgebiets beansprucht, nur scheiterten die Umsturzversuche an der ukrainischen Rückeroberung der Gebiete und am Widerstand vor allem aus der aktiven Zivilgesellschaft vor Ort. Zu befürchten ist, dass die russische Führung nun mit absoluter Gewalt dieses Ziel zu erreichen versucht und gegen den damaligen und gegenwärtigen Widerstand aus Teilen der Bevölkerung brutal vorgehen wird. Die ukrainischen Behörden hatten bereits letzte Woche die Bevölkerung vor Ort aufgefordert, zu fliehen.

Begrenzung des Krieges nicht wahrscheinlich

Zudem kann zum jetzigen Zeitpunkt nicht davon ausgegangen werden, dass sich die nächste russische Offensive auf den Donbas und den Südosten des Landes beschränken wird. Ein erneuter Angriff auf Kyiv als Hauptstadt oder auf die Hafenstadt Odessa, um die Ukraine vom für den Handel entscheidenden Meerzugang dauerhaft abzuschneiden, ist weiterhin und vor allem bei einer Niederlage des ukrainischen Militärs im Donbas zu erwarten. Ständiger Luftalarm und Bombenangriffe sind bereits grausame Realität für alle Regionen des Landes. Eine regionale und zeitliche Begrenzung des Krieges ist weiterhin nicht wahrscheinlich, hat die russische Führung doch das Ziel nicht aufgegeben, die gesamte Ukraine politisch und militärisch kontrollieren zu wollen.

Bemerkenswerte Widerstandskraft

Die letzten Wochen haben gezeigt, dass die ukrainische Verteidigungsfähigkeit trotz der militärischen Übermacht des Gegners enorm ist. In diesem Vernichtungskrieg zeigen Akteure und Akteurinnen aus der lokalen Politik und der Zivilgesellschaft, teilweise in den gefährlichsten Orten des Landes, eine bemerkenswerte Widerstandskraft. Der Staat und die Gesellschaft verfügen dabei über eine starke Resilienz gegen russische Propaganda und gegen russischen Versuche, ein gewaltsames Besatzungsregime aufzubauen. Das seit 2014 intensivierte deutsche Engagement für wirtschaftliche Stabilität, staatliche Reformen und zur Stärkung der Zivilgesellschaft, erweitert um Waffenlieferungen seit Kriegsbeginn, trugen auch zu dieser Stabilität der Ukraine bei. In diesem Moment der existentiellen Bedrohung gilt es, diese deutsche Unterstützung fortzusetzen und die bilaterale Partnerschaft auf eine neue Grundlage zu stellen.

Schnellstmögliche Hilfe

Zeit ist in dieser Phase des Krieges ein entscheidender Faktor, jede Form von Hilfe für die Ukraine muss sofort oder zumindest schnellstmöglich erfolgen. Während momentan die russischen Einheiten in ihrer Kampfkraft eingeschränkt und die russische Taktik in den letzten Wochen nicht aufgegangen ist, könnte sich das in den nächsten Tagen und Wochen ändern. Nach einer Neugruppierung und Aufrüstung der angreifenden Streitkräfte ist zu befürchten, dass das ebenfalls geschwächte ukrainische Militär nicht mehr standhalten kann. Die Ukraine muss deshalb schnellstmöglich weiter mit den Waffen ausgestattet werden, die zur Verteidigung des eigenen Territoriums und zur Rückeroberung der russisch besetzten Gebiete notwendig sind. Erst aus einer militärischen starken Position wird die Ukraine erfolgreiche Verhandlungen mit Russland führen können. Auch würde eine ukrainische Verteidigung des Donbas´ weitere Angriffe Russlands auf andere Gebiete des Landes weniger wahrscheinlich werden lassen.

Europäischer Aufbauplan

Der Faktor Zeit ist entscheidend, weil an jedem weiteren Kriegstag Zivilistinnen und Zivilisten getötet oder Städte und Infrastruktur massiv zerstört werden. Zudem erhöhen sich die wirtschaftlichen wie politischen Kosten für Europa und Deutschland von Tag zu Tag. Nicht nur massive Ernteausfälle und die damit verbundenen Implikationen für die Welternährungssicherheit, sondern mittlerweile auch eine Stagnation der europäischen Wirtschaft bis hin zu einer Rezession sind zu befürchten. Jetzt ist der richtige Zeitpunkt, um einen europäischen Aufbauplan, in einem weit größeren Umfang als die Hilfen der letzten acht Jahre, für die zerstörten Landesteile in der Ukraine aufzusetzen. In einigen Gebieten, vor allem im Norden Kyivs, kann bereits mit dem Wiederaufbau begonnen werden. Zudem würde Europa und insbesondere Deutschland mit einem solchen `Marshallplan` für die Ukraine ein wichtiges Signal in das umkämpfte Land senden.

Ende der freundlichen Ignoranz

Schnellstens sollten auch (Fehl-)Annahmen überwunden werden, die bis zum Kriegsbeginn das außenpolitische Handeln Deutschlands mitgeprägt haben: Der Wunsch in den Beziehungen mit dem autoritär geführten Russland eine Annäherung durch Verflechtung zu erreichen, ist spätestens seit dem 24. Februar gescheitert und muss mindestens bis Kriegsende durch eine klare Abgrenzungs- und Abschreckungspolitik ersetzt werden. Die jahrelange freundliche Ignoranz gegenüber Warnungen aus osteuropäischen Ländern, vorrangig aus Polen, der Ukraine und den baltischen Staaten vor den vielfachen hybriden und militärischen Destabilisierungsversuchen Russlands im letzten Jahrzehnt vor allem gegenüber der Ukraine muss ein Ende finden. Stattdessen sollte eine zukünftige Russlandpolitik deutscher Regierung wesentlich enger mit den eigenen europäischen Partnern abgestimmt werden. Die wichtigste Aufgabe Deutschlands wird dabei in den nächsten Jahren sein, die Stabilität und Sicherheit dieser Länder abzusichern.

Geschichte verstehen lernen

Die historische Verantwortung Deutschlands aufgrund des nationalsozialistischen Vernichtungskrieges sollte weiterhin handlungsleitend für die deutsche Außenpolitik in dieser Region sein. Wichtig ist, stärker die vielfache Gewaltgeschichte dieser Länder im 20. Jahrhundert verstehen zu lernen und beim eigenen Handeln in Osteuropa zu bedenken. Zudem würde es helfen, gegenwärtige Perspektiven und Reaktionen der Partner aus Polen oder der Ukraine zu verstehen.

Das gemeinsame Projekt der Konrad-Adenauer-Stiftung in Charkiv und der EAF war ein Teil des vielfältigen deutschen Engagements in der Ukraine in den letzten Jahren, das insbesondere bei der Demokratisierung und Stärkung der aktiven Zivilgesellschaft Erfolge zeigte. Die klare Antwort der Ukraine auf den russischen Angriff, die u.a. aus dieser von uns geförderten Zivilgesellschaft kommt, sollte uns darin bestärken, das Land jetzt schnell und noch weit umfangreicher als bisher zu unterstützen.

Veröffentlicht am: | Autorin : Dr. Brigitta Triebel

Autorin
Dr. Brigitta Triebel

Dr. Brigitta Triebel, promovierte Osteuropahistorikerin, leitet seit April 2023 das Auslandsbüro der Konrad-Adenauer-Stiftung in Moldau. Sie war von Seiten der Konrad-Adenauer-Stiftung Kooperationspartnerin des EAF-Projekts "Gemeinsam für Demokratie" (2021-2023).

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