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Etwas Neues wird kommen, das Alte vergehen

Zum persischen Neujahrsfest (Nowruz) in Zeiten des revolutionären Prozesses berichtet EAF-Expert Tannaz Falaknaz.

Weltweit feiern Menschen Nowruz (zu Deutsch: Neuer Tag). Das Nowruz-Fest ist eines der ältesten Feste der Welt und wird in vielen Ländern gefeiert. Familien kommen jedes Jahr zwischen dem 20. und 22. März zusammen, um das neue Jahr zu begrüßen. In diesem Jahr feiern wir im Iran am 20.03. Durch den revolutionären Prozess, der nun schon sechs Monate anhält, ist klar, dass das Fest in diesem Jahr nicht sein wird wie in den letzten Jahren. So wie Iran nicht mehr sein wird wie vor September 2022.

Haftsin – die sieben Elemente auf dem iranischen Neujahrstisch

Als ich ein Kind war, war ich jedes Jahr aufs Neue beeindruckt von dem farbenfrohen Neujahrs-Tisch (Sofre), den meine Eltern liebevoll zum Fest deckten. Haft-sin bedeutet „Sieben S“ und geht auf den Brauch zurück, sieben Elemente, die im iranischen mit dem Buchstaben S beginnen auf dem Tisch zu platzieren. Auch im Erwachsenenalter übte ich fleißig über den Tisch oder das Tuch gebeugt. Sib (Apfel) steht für die Gesundheit, Sir (Knoblauch) für den Schutz, Somagh (bestimmtes Gewürz) für den Geschmack des Lebens, Sabze (Weizen oder Linsensprosse) symbolisiert die Munterkeit, Senjed (Mehlbeere) die Liebe, Serkeh (Essig) das lange Leben. „Wofür steht nochmal Samanu (Weizenbre)?“ – „Es soll etwas Schönes und Segen in Dein Leben bringen!“. Der Tisch wird oft zusätzlich noch gedeckt mit bemalten Eiern, das Buch des Dichters Hafez, Blumen, Kerzen und Spiegel. Für mich war Nowruz schon immer eine Mischung aus Weihnachten, Silvester und Ostern. Schon immer ein Fest, an dem die Familie zusammenkommt, das letzte Jahr verabschiedet und das neue begrüßt. Har Ruzetan Nouruz, Nouruzetan Piruz heißt es an diesem Tag immer: „Jeder Tag soll ein neuer und der Tag gesegnet sein“.

Doch in diesem Jahr ist der Geschmack des Lebens bitterer geworden, ein langes Leben erscheint nicht selbstverständlich. Viele im Iran sind schutzlos, die Krankenhäuser voller kranker und vergifteter Schulmädchen. Segen und Munterkeit fühlen sich anders an.

Auch nach 6 Monaten hält der revolutionäre Prozess an

Denn in diesem Jahr steht alles unter einem anderen Zeichen. Nach dem gewaltsamen Tod von Jina Mahsa Amini und dem Beginn der landesweiten Bewegung, befindet sich das Land seit sechs Monaten in einem Prozess, den viele als Point of no return bezeichnen. Erstmalig sind alle Schichten, Ethnien, Generationen und Geschlechter für den Sturz der Islamischen Republik und ihre Freiheit und Rechte auf den Straßen. Der kurdische Freiheitsspruch Jin, Jiyan, Azadi (Frau – Leben – Freiheit) hat sich zum Slogan der Revolutionsbewegung etabliert. In den Tagen, wo nicht die Straßenproteste das Stadtbild dominieren, hört man aus den Fenstern der Häuser Menschen: „Freiheit“ im Chor rufen. Die Revolution ist angekommen und schmückt unzählige Straßenmauern und Häuserwände. Politische Graffitis, kaum übersehbar. Dann wieder Tage, wo die Straßen einer Geisterstadt gleichen, weil die Bazare und Läden streiken. „Ich bin im Urlaub“, steht an vielen Türen. Diesem Widerstand steht ein Regime gegenüber, das mit äußerster Brutalität gegen die Bevölkerung vorgeht. Mehr als 500 Menschen sind getötet worden, darunter viele Kinder. Es gab die ersten Hinrichtungen im Kontext der Bewegung und vielen weiteren steht die Todesstrafe bevor, so wie es dem Deutschen Jamshid Sharmahd ergangen ist, der 2020 auf dem Weg zu einem beruflichen Aufenthalt in Indien in Dubai entführt und in den Iran verschleppt worden ist und dem akut nach seiner Verurteilung die Hinrichtung droht. Zeit ist kostbar in diesen Tagen. Wir sind sechs Monate nach Beginn der Revolution nicht wieder, sondern immer noch gefragt, aktiv zu werden, aktiv zu bleiben. Es braucht eine neue Iran-Politik, es braucht Europa und den Westen als strategische Partner der Opposition. Immer wieder wird appelliert, dass es nicht zu spät ist, sich auf die Seite der Bevölkerung zu stellen, u.a. die Exil-Opposition ernst zu nehmen, die sich u.a. bestehend aus Menschenrechtsaktivist*innen, Politiker*innen und Kulturschaffenden gebildet hat, um den Übergang zu einer Demokratie im Iran zu ermöglichen und zu unterstützen – ohne langfristigen Machtanspruch. Erst kürzlich erschien ihre Charta für einen demokratischen Iran. Schritte wie diese machen Hoffnung, dass die Menschen im Iran eines Tages frei sein können. Doch Hoffnung allein reicht nicht, es braucht Aktivismus. Es braucht Handlungen über Lippenbekenntnisse hinaus, es braucht Verbündete auf allen politischen Ebenen. Das sind wir den mutigen Menschen schuldig.

Mut und Widerstand der iranischen Bevölkerung und immer wieder ein Neubeginn

In den letzten sechs Monaten gab es viele Nowruz-Momente, in denen der Mut vieler Menschen den Höhepunkt eines Neubeginns markierte. Nowruz war für mich, die ermordete Nika Shakarami in einem Video auf eine Tonne steigen zu sehen, das brennende Kopftuch mit der geballten Faust in den Himmel ragend. Nowruz war für mich, als die Eltern von Mohammad Mehdi Karami neben dem Grab ihres Sohnes auch das Grab von Seyed Mohammad Hosseini, der keine Familie hatte und am selben Morgen wie Karami hingerichtet worden war, besuchten und Blumen niederlegten und ein ganzes Land schrie: „Wir sind alle deine Familie“. Nowruz war die Studierenden an Universitäten außerhalb der Mensa draußen sitzen und essen zu sehen, weil man ihnen zuvor verboten hatte, drinnen geschlechterübergreifend zusammenzusitzen. Nowruz war für mich Videos von entlassenen Frauen zu sehen, wie sie mit Blumen in der Hand noch vor dem Gefängnis stehen, das Kopftuch vom Kopf reißen, Parolen schreien und weitermachen. So wie die 28jährige Gewerkschafts-Aktivistin und Journalistin Sepideh Qolian, die nach fast fünf Jahren Evin-Gefängnis und Folter wenige Momente nach ihrer Entlassung das religiöse Oberhaupt Khamenei namentlich schreiend als Teufel bezeichnet. Ich könnte diese Aufzählung ewig fortführen. Es gab so viele Nowruz-Momente, die mir zeigten, dass etwas Neues kommt und etwas Altes vergeht. In diesem Jahr ist Nowruz für mich Neubeginn und Widerstand der Menschen für die Freiheit aller. Har Ruzetan Nouruz, Nouruzetan Piruz.

Für mich persönlich etablierte sich an Nowruz auch immer der Brauch, mir etwas zu wünschen. So machten es schließlich auch die Freund*innen in Deutschland an Silvester. Es gibt Jahre, in denen man wunschlos glücklich ist. Es gibt Jahre, wo einem abertausende Wünsche einfallen. In diesem Jahr habe ich nur einen Wunsch.

Veröffentlicht am: | Autorin : Tannaz Falaknaz

Autorin
Tannaz Falaknaz

Tannaz Falaknaz ist als Senior Expert für Politik, Verwaltung und Diversität im Team der EAF Berlin tätig.

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