Ein Beitrag von Kathrin Mahler Walther und Dr. Helga Lukoschat.
Am Tag nach der Bundestagswahl kursierte das Foto vom Frühstück im Konrad-Adenauer-Haus. Sechs Männer in der zweiten Lebenshälfte strahlten in die Kamera. Hier sehen wir die neue politische Spitze der Republik. Was fehlt? Frauen offensichtlich, das springt auf den ersten Blick ins Auge. Aber auch jüngere Gesichter. Wir vermuten auch, dass niemand eine Migrationsbiografie mitbringt. Diese Aufzählung ließe sich fortsetzen. Das Bild erinnert an das Foto der Führungsriege im Heimat-Ministerium von Horst Seehofer, das er 2018 präsentierte. Seitdem hat zumindest etwas mehr Geschlechtervielfalt in den politischen Spitzenpositionen des Landes Einzug gehalten.
Und jetzt das? Ein deutlicher Rückschritt.
Wie steht es um die Vielfalt im 21. Bundestag?
204 von 630 Bundestagsabgeordneten sind Frauen, das entspricht einem Anteil von 32,4 Prozent und damit einem Rückgang um 2,9 Prozentpunkte im Vergleich zum vorherigen Bundestag. Frauen ziehen stärker über Listenplätze als über Direktmandate in den Bundestag ein: 10 Prozent der Plätze im Bundestag werden von Frauen besetzt, die über ein Direktmandat gewählt wurden; 23 Prozent der Sitze erhielten Frauen über einen Platz auf den Landeslisten ihrer Parteien.
Auch mit Blick auf weitere Vielfalts-Dimensionen zeigt sich eine erhebliche Repräsentationslücke. So liegt der Anteil jüngerer Menschen unter 35 Jahre bei 16,2 Prozent und damit deutlich unter ihrem Anteil in der Bevölkerung von 36,5 Prozent. Ähnlich sieht es aus, wenn wir nach Abgeordneten mit Migrationsbiografie suchen – ihr Anteil liegt bei 11,6 Prozent im Bundestag im Vergleich zu 29,7 Prozent in der Bevölkerung, nur 14,4 Prozent sind wahlberechtigt. Unter den Berufsgruppen der Abgeordneten zeigt sich mit knapp 80 Prozent eine starke Dominanz von Rechts- und Verwaltungsberufen. Für weitere Vielfalts-Dimensionen liegen bisher noch keine statistischen Auswertungen vor.
Warum ist Vielfalt im Bundestag ein relevantes Thema?
Die repräsentative Demokratie basiert auf dem Prinzip, das in Summe das Spektrum der Anliegen und Perspektiven der Bevölkerung durch die Abgeordneten repräsentiert wird. Laut Artikel 38 Grundgesetz vertreten sie „das ganze Volk“. Doch ist dies der Fall, wenn bestimmte Bevölkerungsgruppen über einen längeren Zeitraum hinweg in den Parlamenten deutlich unterrepräsentiert sind? Ein Diversitätsproblem ist damit immer auch ein Repräsentationsproblem. Es schwächt die Demokratie. Denn sie ist nur so stark wie die Vielfalt der in ihr vertretenen Stimmen.
Was sind die Ursachen für den geringen Frauenanteil im 21. Bundestag?
Leider zeigt sich auch im neuen Bundestag: Je konservativer das Parlament, desto weniger Frauen sind vertreten. Die beiden stärksten Fraktionen weisen den niedrigsten Frauenanteil auf: nur 23 Prozent bei der CDU/CSU und 12 Prozent bei der AfD. Bei der SPD sind es 42 Prozent, bei Linken und Grünen dagegen über 50 Prozent. Beide Parteien haben mit einem Durchschnittsalter von 42 Jahren zugleich die jüngsten Abgeordneten, während es bei der AfD mit knapp 51 Jahren am höchsten liegt, bei der CSU sind es 48 Jahre.
Welche Auswirkungen hat die Reform des Wahlrechts?
Hierzu gibt es noch keine aussagekräftige Untersuchung. Naheliegend ist ein Blick auf den Wegfall von Überhang- und Ausgleichsmandaten im 21. Bundestag: 23 Direktkandidat*innen werden aufgrund des neuen Wahlrechts nicht in den Bundestag einziehen, obwohl sie in ihrem Wahlkreis die meisten Erststimmen auf sich vereinigt haben. Das betrifft 8 Frauen und 15 Männer. Da es sich überwiegend um Bewerber*innen von CDU und CSU und AfD handelt, hätte der Einzug der Direktkandidat*innen zu Ausgleichsmandaten insbesondere bei den Grünen, der Linken und der SPD geführt. Diese drei Parteien besetzen ihre Wahllisten mit einer Geschlechterquotierung nach dem Reißverschlussprinzip, daher könnte bei den Ausgleichsmandaten eine 50:50 Geschlechterverteilung vorgelegen haben. Vermutlich hätte sich dadurch der Anteil von Frauen im Bundestag leicht erhöht.
Eine wichtige Rolle dürfte spielen, dass Männer in für ihre Parteien eher als „sicher“ geltenden Wahlkreisen aufgestellt worden sind, während Frauen in den als weniger aussichtsreich geltenden kandidierten. Dies entspricht einem Muster, das wir in den vergangenen Jahren immer wieder beobachten konnten, zuletzt sehr deutlich bei der Wiederholungswahl zum Abgeordnetenhaus in Berlin (sowohl bei der CDU als auch bei der SPD). Zugleich ist anzunehmen, dass aufgrund der Wahlrechtsreform, vor allem bei CDU /CSU, Männer in Wahlkreisen zusätzlich auf aussichtsreichen Listenplätzen abgesichert wurden und dadurch die Chancen für Frauen, über die Liste in den Bundestag einzuziehen, weiter reduziert wurden.
Warum ist es überhaupt wichtig, dass Frauen im Bundestag stärker repräsentiert sind?
Chancengleichheit ist ein Anliegen, dass für alle Geschlechter relevant ist. Und auch Männer setzen sich dafür ein. Aber leider noch nicht in dem Maße wie Frauen. Das liegt auch daran, dass die Nachteile des traditionellen Geschlechterverhältnisses in hohem Maße zu Lasten von Frauen gehen. Ein Blick auf die diversen Gender-Gaps im Einkommen, der Verteilung von Sorge-Arbeit, der Rente, aber auch in Bezug auf die Freiheit der Entscheidung über den eigenen Körper bis hin zur Erfahrung von Sexismus und Gewalt. So zeigen auch alle Studien, dass Geschlechtergerechtigkeit Frauen ein stärkeres Anliegen ist als Männern.
Deshalb ist es so wichtig, dass die Perspektiven von Frauen - in ihrer Vielfalt - in der Politik repräsentiert werden. Und zwar entsprechend ihres Anteils in der Bevölkerung. Auch damit die Lebenswelten, die Themen und Anliegen von Frauen in den politischen Entscheidungen überhaupt sichtbar sind und erfolgreich vertreten werden. Mehrfach in der Geschichte der Bundesrepublik sind wichtige Entscheidungen durch überfraktionelle Frauenbündnisse zustande gekommen, u.a. die Reform des §218, das Verbot der Vergewaltigung in der Ehe, das Gesetz zur Geschlechterquote in Führungspositionen und in der letzten Legislatur das Gewalthilfegesetz. Gescheitert ist die Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs, obwohl sie von zwei unabhängigen Kommissionen empfohlen und von der Bevölkerung mehrheitlich befürwortet wird. Der Gesetzentwurf scheiterte im Rechtsausschuss des Bundestages an den Stimmen der konservativen Parteien mit sehr geringem Frauenanteil: der FDP und der CDU.
Was hält Frauen davon ab, in die Politik zu gehen?
Ein großer Faktor sind die geringeren zeitlichen und materiellen Ressourcen, über die Frauen im Vergleich zu Männern verfügen. Politisches Engagement beginnt in der Regel auf kommunaler Ebene im Ehrenamt. Es ist zeit- und kostenaufwändig und stellt in der Kombination mit Beruf und Familie für Frauen oft einen dreifachen Spagat dar. Der Anteil von Frauen ist auf der kommunalen Ebene mit 30 Prozent im Durchschnitt sogar noch niedriger als im Bundestag.
Aber neben diesen bekannten strukturellen Problemen der Vereinbarkeit und der Geschlechterstereotype, rücken vor allem die nach wie vor männlich geprägten Umgangsformen und Kommunikationskulturen in den Parteien in den Vordergrund, vor allem, wenn es um eine politische Karriere auf Landes- und Bundesebene geht. Frauen erfahren einen Alltagssexismus, der sich in mehr oder minder subtilen Formen äußert: die Beiträge von Frauen werden beispielsweise überhört oder weniger ernst genommen, häufig finden sie keinen Zugang zu männlich dominierten Netzwerken. Politikerinnen werden auf bestimmte Themen oder Aufgaben festgelegt oder als Vorzeigefrauen instrumentalisiert, ohne dass sich in den Strukturen etwas ändern würde. Auch sexuelle Belästigung haben 40 Prozent der Politikerinnen bereits erfahren, bei der Generation unter 45 Jahren sogar ein Drittel mehrfach. Auch die Zunahme von sexistischer und extrem verletzender Hassrede in den sozialen Medien gegenüber Politikerinnen setzt Frauen zu und wirkt sich tendenziell negativ auf die Bereitschaft von Frauen aus, sich künftig in der Politik zu engagieren. Frauen sind daher zusätzlich zu den inhaltlichen Auseinandersetzungen in der Politik in hohem Maße gefordert, sich selbst zu behaupten.
Was müsste sich verändern?
Weil so viel Faktoren eine Rolle spielen, ist es entscheidend, einen ganzheitlichen Ansatz zu verfolgen: Dazu gehören parteiinterne Maßnahmen wie Leitlinien zur Rekrutierung neuer Mitglieder und einer inklusiven Willkommenskultur, zeitschonende, vereinbarkeitsfreundliche Sitzungen oder auch die Bereitschaft, einmal Personen ohne Parteibindung aufzustellen. Vor allem auf kommunaler Ebene sind Reformen notwendig, das Ehrenamt attraktiver zu gestalten, gerade auch für jüngere Menschen, für Frauen und für Personen mit aktiven Familienpflichten. In das Maßnahmenpaket gehört die Diskussion und Verabschiedung eines Code of Conducts, um auf allen Parteiebenen Diskriminierung und Sexismus zu begegnen, einschließlich des Schutzes und der Beratung zu Hassrede insbesondere auf kommunaler Ebene. Ein wichtiges Instrument stellen nach wie vor verbindliche 50-Prozent-Quoten der Parteien bei Ämtern und Mandaten dar. Wünschenswert ist und bleibt jedoch ein Paritätsgesetz, das für alle Parteien sicherstellt, dass die Geschlechter ihrem Anteil entsprechend vertreten sind. Konkrete Vorschläge zur Umsetzung wurde u.a. in der letzten Legislatur bereits von namenhaften Jurist*innen erarbeitet.
Schließlich bleibt es eine zentrale Aufgabe von Politik, Geschlechterstereotype und strukturelle Ungleichheiten zu überwinden, so wie es dem Auftrag des Grundgesetzes in Artikel 3 entspricht.
Wie sind die Aussichten für die Gleichstellung der Geschlechter?
Der Rückschritt im Frauenanteil im Bundestag macht deutlich, dass Gleichstellung kein Selbstläufer ist. Das Ziel der Chancengleichheit muss deshalb konsequent weiterverfolgt werden. Doch die Wahlprüfsteine verschiedener Organisationen, wie u.a. des Deutschen Frauenrats, haben gezeigt: Gleichstellungspolitische Forderungen spielten im Wahlprogramm der CDU und der CSU kaum eine Rolle. Gleichstellung läuft daher Gefahr, in der neuen Regierung zu wenig Beachtung zu finden. In Teilen der Opposition sieht es noch schlechter aus: Die AfD will alle Institutionen und Initiativen zur Förderung der Chancengleichheit streichen und das Ziel von der politischen Agenda tilgen.
Chancengleichheit und Antidiskriminierung müssen in den Koalitionsverhandlungen daher Priorität haben und als Querschnittsaufgabe für alle Ressorts verankert werden. Dies ist jetzt eine vordringliche Aufgabe der SPD, in deren Wahlprogramm zahlreiche gleichstellungspolitische Forderungen benannt sind. Doch auch die aufgeschlossenen Politiker*innen der CDU/CSU sind gefragt, sich jetzt in den Koalitionsverhandlungen dafür stark zu machen.
Und: die demokratischen Parteien im Bundestag sollten zusammenstehen und gemeinsam wichtige Errungenschaften der Gleichstellungspolitik, wie das Selbstbestimmungsgesetz, bewahren und weitere Ziele, wie die Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs sowie ein Paritätsgesetz, konsequent verfolgen und mit interfraktionellen Initiativen voranbringen. Denn gerade in Krisenzeiten gilt es, die Rechte von Frauen und von benachteiligten Gruppen zu sichern und ihre Ressourcen für echte Teilhabe zu stärken.
Die Autorinnen:
Kathrin Mahler Walther ist geschäftsführende Vorsitzende der EAF Berlin und berät Organisationen zur Förderung von Vielfalt und Chancengleichheit. Sie hat für die EAF Berlin verschiedene Studien zu Führungskräften in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft durchgeführt, zuletzt 2024 die Studie zum „Engagement von Frauen in der Kommunalpolitik in Sachsen“ im Auftrag des Sächsischen Staatsministeriums der Justiz und für Demokratie, Europa und Gleichstellung. Die gebürtige Leipzigerin engagierte sich in den 1980er Jahren für die Friedliche Revolution und war anschließend im ersten Sächsischen Landtag tätig. Für ihr Engagement wurde sie von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier mit dem Bundesverdienstkreuz geehrt.
Dr. Helga Lukoschat ist stellvertretende Vorstandsvorsitzende und Senior Advisor der EAF Berlin. Sie verfügt über umfangreiche Erfahrung in der Beratung von Unternehmen und Organisationen, in der Konzipierung und Durchführung praxisorientierter Forschungsprojekte sowie in der strategischen Steuerung von Programmen und Kooperationsprojekten sowohl in der Wirtschaft als auch in der Politik. Sie hat zahlreiche Publikationen, etwa zu Parteikuluturen und die politische Teilhabe von Frauen, veröffentlicht und wird vielfach als Expertin, Moderatorin oder Rednerin angefragt. Einen Schwerpunkt ihrer Tätigkeit bilden internationale Projekte zur Förderung der politischen und gesellschaftlichen Partizipation von Frauen.