Ein Menschenzug läuft im Jahr 1989 auf den Straßen durch Leipzig.

Leipzig 1989. Bild: Bundesarchiv, Bild 183-1989-1023-022 / Friedrich Gahlbeck / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 DE <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en>, via Wikimedia Commons

35 Jahre Friedliche Revolution: Mut zur Demokratie

Leipzig, 9. Oktober 1989, hier nahm die Friedliche Revolution vor 35 Jahren ihren Ausgangspunkt: Die Luft war zum Zerreißen gespannt. Aufruhr und Angst lagen über der Stadt. Überall auf den Straßen drängten sich Laster voller Bereitschaftspolizei, die Krankenhäuser wurden mit Blutkonserven versorgt und in den Betrieben wurde gewarnt: Geht heute nicht in die Innenstadt!

Doch sie gingen.

Die Menschen nahmen ihren Mut zusammen, haben ihre Angst überwunden und sich auf den Weg gemacht. 70.000 – 100.000 Menschen waren es, die an diesem Abend gemeinsam demonstrierten und mit ihrem friedlichen Protest das Regime in die Knie zwangen. Dieser 9. Oktober steht heute symbolisch für den Beginn der Friedlichen Revolution, die im Herbst 1989 Tausende Menschen an vielen Orten der damaligen DDR erkämpften.

Auch ich war dabei. Ich war damals 17 und gehörte zu den Leipziger Menschenrechtsgruppen, die den Protest aus den Kirchen auf die Straßen brachten. Wir sind das Volk! haben wir gerufen und uns damit gegen die Staatsmacht gestellt. Wie groß waren unsere Hoffnungen auf Demokratie!

Und wo stehen wir heute, 35 Jahre später?

Nach den Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg blicke ich mit vielen Fragezeichen, mit Sorge auf „den Osten“ und eine andere Angst macht sich zunehmend breit. Sie ist nicht neu, diese Angst, sie treibt mich schon lange um, sie wird größer und größer.

Hier, wo sich die Menschen aus der Diktatur befreit haben, sind heute viele bereit, den Antidemokrat*innen ihre Stimme zu geben. Die Strateg*innen der AfD haben sich das gut überlegt: Hier können sie beginnen. Hier, wo die wirtschaftliche Lage zwar gut, aber dennoch deutlich schlechter ist als im Durchschnitt der Bundesrepublik. Wo die Menschen wenig Eigentum haben, geringere Löhne gezahlt werden und es kaum etwas zu vererben gibt. Der Soziologe Steffen Mau hat die anhaltenden Unterschiede in seinem aktuellen Buch „Ungleich vereint“ sehr klar benannt. Hier, wo seit Jahren die Umfragen zeigen, dass sich viele als „Menschen zweiter Klasse“ fühlen, lässt sich die Unzufriedenheit am einfachsten adressieren. In den Kommunal- und Landtagswahlkämpfen dieses Jahres haben sich westdeutsche Kader der AfD gezielt ostdeutsche Identitäten zu Nutze gemacht und damit etwas aufgewertet, was im gesamtdeutschen Diskurs eine eher abfällige Bewertung erfährt. Nicht wenige Menschen haben das Gefühl, durch die AfD und ihre Unterstützer*innen gesehen, verstanden und vertreten zu werden.

Überall in Deutschland sind Menschen unzufrieden

Aber es ist nicht einfach „der Ossi“, der sich von Populist*innen verfangen lässt oder, wie heute häufig diskutiert wird, das Denken der Diktatur nie hinter sich gelassen hat. Das wäre zu kurz gegriffen, viel zu schematisch. Überall in Deutschland sind Menschen unzufrieden. Es ist nicht unbedingt ihr vorherrschendes Gefühl, aber die Unzufriedenheit ist eben auch da. Mit der richtigen Strategie lässt sie sich mobilisieren, im Westen genauso wie im Osten – und wie wir wissen, auch in vielen anderen europäischen Ländern. Der Osten Deutschlands war der Startpunkt für die Feinde der Demokratie. Doch schon jetzt zeigte uns die Europawahl erschreckend hohe Ergebnisse für die AfD auch in westdeutschen Ortschaften. In diesem Sinne kann Ostdeutschland als Raum gesehen werden, der eine Entwicklung vorwegnimmt, die sich auf ganz Deutschland ausbreiten wird – wenn wir sie nicht stoppen.

Wir können viel tun, um die Demokratie zu retten

Viele fragen sich in diesen Tagen: Was können wir tun, um die Demokratie zu retten? Viel, das ist sicher! Die Demokratie ist nicht verloren. Diese Entwicklung - sie lässt sich stoppen. Vier Punkte möchte ich hier in den Fokus rücken:

  1. Die vielfältige demokratische Zivilgesellschaft im Osten stärken.
    So viele Menschen engagieren sich in Vereinen und Initiativen, in Unternehmen und Verbänden für ein gutes Miteinander in ihrer Heimat. Sie tun das unter schwieriger werdenden Bedingungen. Und im Vergleich zu Westdeutschland verfügen sie über deutlich weniger Ressourcen: Es gibt weniger privates Kapital, kaum Infrastruktur in Form von Räumen oder öffentlichen Stellen, wenig Gelder von Unternehmen und Stiftungen. Viel Engagement vor Ort wird getragen von Ehrenamt und schlecht finanzierten temporären Projektmitteln. Langfristiges Wirken, nachhaltiges Engagement lässt sich so nur schwer aufbauen und die, die es versuchen, geraten zunehmend in Erschöpfung.
  2. Repräsentativität der Demokratie verbessern.
    Fehlende Repräsentanz führt zu mangelnden Perspektiven in den demokratischen Prozessen und damit schwindet die Akzeptanz und das Vertrauen in demokratische Verfahren. Viele Bevölkerungsgruppen sind deutlich unterrepräsentiert in den Parteien, den Volksvertretungen und Parlamenten – dazu gehören u.a. Frauen, junge Menschen, Nicht-Akademiker*innen. Parteien, die ganz überwiegend in den letzten Jahrzehnten einen stetigen Mitgliederschwund zu beklagen haben, müssen sich der Ansprache, Gewinnung und Integration neuer Mitglieder und Unterstützer*innen aus der Breite der Bevölkerung verschreiben. Sie müssen ihnen attraktive, durchlässige Möglichkeiten der Mitwirkung bieten. Für die sogenannte „Ochsentour“ hat heute kaum noch jemand Zeit und Lust.
  3. Mehr Möglichkeiten der Mitbestimmung schaffen.
    Die Mitwirkung in Parteien kann nicht die einzige Form der politischen Partizipation bleiben. Damals, im Herbst 1989, wünschten sich viele Menschen mehr direkte Mitbestimmung. Demokratisch strukturierte Formen direkter Demokratie sollten viel stärker auf ihre Möglichkeiten hin ausgelotet und genutzt werden. Durch Beiräte, Runde Tische und Formate können unterschiedliche Perspektiven eingeladen und einbezogen werden. Steffen Mau bringt in seinem Buch den Vorschlag der Bürgerräte ein. Diese werden nach Losverfahren besetzt und unterstützen die Entscheidungen in den Kommunen. Interessant wäre, noch einen Schritt weiter zu denken: Die zumindest teilweise Besetzung von Parlamenten durch Losverfahren würde ihre Repräsentativität erheblich verbessern und wäre an dieser Stelle viel besser platziert als beim Schöffenamt, das bereits nach diesem Prinzip besetzt wird.
  4. Die AfD verbieten.
    Unbedingt sollte ein Verbotsverfahren auf den Weg gebracht werden. Viele der Gründe, die in der aktuellen Debatte dagegen angeführt werden, wundern mich zutiefst: Wir haben klare Prinzipien und Verfahren zum Schutz der Demokratie. Und wir sollten sie nicht nutzen, weil dies den Unmut der Wähler*innen erzeugen und der AfD in die Hände spielen könnte? Stattdessen lassen wir die Menschen im Glauben, es handele sich um eine demokratische Partei? Und überlassen ihr das Land? Stärken sie durch Unmengen öffentlicher Gelder in ihrer Arbeit, die bereits für drei Landesverbände als gesichert rechtsextremistische Bestrebung eingestuft wurde? Das können wir nicht ignorieren.  

Für ein offenes Land mit freien Menschen

Damals, als die Menschen in Ostdeutschland sich mit all ihrem Mut selbst befreiten, waren die Hoffnungen groß. „Für ein offenes Land mit freien Menschen“ stand auf einem der ersten Plakate im Herbst 1989. Katrin Hattenhauer und Gesine Oltmanns haben es vor der Leipziger Nikolaikirche entrollt. Es ist heute so aktuell wie damals und es prangt auf der Einladung zum Festakt am 9. Oktober 2024 in Leipzig. In der sächsischen Messestadt gedenkt man Jahr für Jahr mit dem Lichtfest der Friedlichen Revolution, die hier ihren Ausgangspunkt nahm. Warum nur in Leipzig? Für mich ist das der eigentliche Feiertag, denn er hat Mauerfall und Deutsche Einheit überhaupt erst möglich gemacht. Er erinnert an die Kraft und die Hoffnungen der Friedlichen Revolution und sollte uns Mahnung sein, wie hart wir in Deutschland für diese, unsere Demokratie gekämpft haben. Lasst uns gemeinsam in dieser Kraft alles dafür tun, um sie zu erhalten, denn Wir sind das Volk!

Kathrin Mahler Walther ist geschäftsführende Vorsitzende der EAF Berlin. Geboren wurde sie 1970 in Leipzig und gehörte zu den jüngsten Bürgerrechtlerinnen in der früheren DDR. Für ihr Engagement verlieh ihr Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier das Bundesverdienstkreuz.

2019 forderte sie in ihrem Beitrag in der Zeit Online „Wir müssen den 9. Oktober feiern

Bild: Bundesarchiv, Bild 183-1989-1023-022 / Friedrich Gahlbeck / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 DE <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en>, via Wikimedia Commons

Veröffentlicht am: | Autorin : Kathrin Mahler Walther

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Kathrin Mahler Walther

Kathrin Mahler Walther ist geschäftsführende Vorsitzende der EAF Berlin.

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