„Viele Feministinnen verstehen unsere Lage immer noch nicht“
Blau-Gelb dominierte das „Café Kyiv“, in das das traditionsreiche Café Moskau auf der Berliner Karl-Marx-Allee für vier Tage verwandelt worden war.
Eingeladen ins "Café Kyiv" hatte die Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) am 27. Februar. „Wir wählen die Freiheit“ hieß das Motto des Tages, der sich unter verschiedensten – politischen, wirtschaftlichen, ökonomischen, ökologischen und kulturellen – Perspektiven den Gründen und Folgen des russischen Angriffs auf die Ukraine und deren Menschen im Verteidigungszustand widmete.
Mit zahlreichen Kooperationspartner*innen hatte die KAS ein vielfältiges Programm zusammengestellt. Darin fanden auch „Die starken Frauen der Ukraine“ ihren Platz. Unter diesem Titel präsentierte sich unser Projekt „Gemeinsam für Demokratie“. Es ging um Partnerschaften und Perspektiven. In einer moderierten Runde sprachen fünf ukrainische Projektpartnerinnen über ihre Verantwortlichkeiten und Aufgaben im Kriegsalltag, ihre Sicht auf die fortdauernde russische Aggression und die Chancen auf Frieden.
„Ich konnte nicht glauben, dass mir das jemals passiert“
Halyna Mynaieva war dafür aus Tschuhujiw angereist. Seit über 20 Jahren ist sie Bürgermeisterin der kreisfreien Stadt im Bezirk Charkiw, die rund 40.000 Bewohner*innen zählt. Tschuhujiw, eine traditionsreiche Garnisonsstadt mit einem wichtigen Flughafen, geriet schon am 24. Februar 2022 unter russischen Beschuss. Damals sei bereits das erste Kind gestorben, berichtet Halyna Mynaieva, „und ich konnte nicht glauben, dass mir das jemals passiert.“ Viele Menschen seien geflohen, sie und ihre Stellvertreter*innen hätten alles darangesetzt, sichere Wege für die Flüchtenden auszumachen und gleichzeitig die Versorgung der Zurückbleibenden zu gewährleisten, etwa die Supermärkte und Apotheken offen zu halten, Schwangere zu versorgen. „Wir haben alle Mitarbeiter*innen der Stadtverwaltung in diese Aufgaben eingebunden. Wir waren da und haben das gemeinsam durchgestanden“, erinnerte sich die Bürgermeisterin. An diesen Überlebensaufgaben habe sich bis heute im Wesentlichen nichts geändert.
„Werdet nicht kriegsmüde“
Maria Chernenko leitet die Militärverwaltung der ländlichen Gemeinde Rohan, die ebenfalls im Bezirk Charkiw liegt und rund 16.000 Einwohner*innen hat. Dort schlugen die ersten russischen Raketen am 28. Februar 2022 ein. Strom und Heizung fielen aus. Viele Menschen gingen auf die Flucht, viele wurden getötet. „Als ich das erste Mal eine Todesnachricht an die Angehörigen überbringen musste, fiel mir das sehr schwer,“ erzählte Maria Chernenko. „Denn hinter jedem Namen steht ein Mensch.“ Inzwischen seien mindestens 80 Prozent der Bevölkerung nach Rohan zurückgekehrt, 2000 Binnenflüchtlinge seien dazugekommen. „Die Hiergebliebenen sind stärker geworden“, sagte Maria Chernenko. „Wir können uns Kriegsmüdigkeit nicht leisten, bitte werdet auch ihr nicht kriegsmüde, denn wir brauchen weiterhin eure Unterstützung.“
„Man kann nicht mit dem verhandeln, der gekommen ist, um dich zu töten“
Lilyia Kislitsyna aus Kramatorsk, Projektpartnerin der ersten Stunde, sprach davon, dass sie nach 2014 auf eine Todesliste geraten sei. Denn sie habe sich für die Ukraine und für den Aufbau der ukrainischen Armee engagiert. Nach 2014 seien mehr Frauen in die Politik gekommen. Sie selbst wurde in den Stadtrat von Kramatorsk gewählt. Im Frühjahr 2022 verließ sie ihre Heimatstadt und ging nach Lviv. Von dort aus organisiert sie seitdem als Vorsitzende der Frauenorganisation „Smarta“ vor allem humanitäre für ihre Heimatregion. Außerdem ist sie Mitgründerin der 1325-Koalition Donezk, die sich als Zivilgesellschaft für die Umsetzung des UN-Resolution „Frauen, Frieden, Sicherheit“ in der Region einsetzt. Ein aktualisierter Nationaler Aktionsplan ist in Kraft, und den 1325-Aktivistinnen geht es darum, Frauen sichtbar zu machen, ihr Überleben zu sichern und sie für den Wiederaufbau des Landes zu stärken. Lilyia Kislitsyna, die die Diskussionen über den Ukraine Krieg in Deutschland mitverfolgt, zeigte sich besorgt über die Pazifismus-Debatten hierzulande. „Viele Feministinnen verstehen unsere Lage immer noch nicht,“ beklagte sie. Seit 9 Jahren würden in der Ukraine Frauen vertrieben, vergewaltigt, umgebracht. „Ich halte es mit Golda Meir: ‚Man kann nicht mit dem verhandeln, der gekommen ist, um dich zu töten,‘“ sagte sie und wiederholte, was fast überall im „Café Kyiv“ gleichlautend gefordert wurde: Mehr Waffen für die Ukraine.
„Ruf nach dem Verhandlungstisch ist zynisch“
Ähnlich argumentierte Yuliia Siedaia aus Charkiw, die als KAS-Stipendiatin seit Sommer 2022 zwischen Berlin und den ukrainischen Partnerinnen engen Kontakt hielt: Verhandeln mit dem Feind, sei kein Pazifismus. Angesichts des Genozids, den Russland gegenüber der Ukraine betreibe, sei es „zynisch, uns an den Verhandlungstisch zu rufen. Dieser Pazifismus ist der Egoismus des Westens, versteckt hinter einer hohen Moral,“ kritisierte die Soziologin und Gender-Expertin.
„Wir werden nicht wahrgenommen“
„Wenn eine Frau eine Stadt oder ein Land führt, wird sie keinen Krieg anfangen,“ vermutete Natalya Deliyeva aus Odessa. Es gebe viele politisch aktive Frauen in der Ukraine, „aber wir und unsere Interessen werden nicht wahrgenommen“, berichtete die ehemalige Kandidatin für das Bürgermeisteramt von Odessa, Vertreterin der Partei „Holos“ und Vorsitzende der Frauenorganisation „Diya“. Alle wichtigen Entscheidungen würden letztlich auf die kommunale Ebene und damit vor allem auf die Frauen zurückfallen, argumentierte die Lokalpolitikerin.
Über die Bedeutung verlässlicher kommunaler Strukturen, funktionierender Verwaltungen und einer aktiven (weiblichen) Zivilgesellschaft für das Über- und Weiterleben im Krieg waren sich alle Teilnehmerinnen einig.