"Schulter an Schulter" - Ukrainerinnen an den Fronten

Die Ukraine hat eine der größten Streitkräfte Europas. In ihren Reihen kämpfen inzwischen rund ein Drittel Frauen.

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Ukrainische Soldatinnen (Foto: www.slovoidilo.ua).

Die Ukraine hat eine der größten Streitkräfte Europas. In ihren Reihen kämpfen inzwischen rund ein Drittel Frauen.

Sie sind in vielfacher Weise in die zivile und militärische Verteidigung ihres Landes eingebunden. Ohne sie wäre der Widerstand gegen die russischen Aggressoren nicht aufrecht zu erhalten. Beim Netzwerktreffen mit den Partnerinnen unseres Projekts "Gemeinsam für Demokratie" am 29. Juni ging es vor allem um die Fragen, ob und wie dieser Einsatz von Frauen die ukrainische Gesellschaft verändert, und wie sich die UN-Resolution 1325 "Frauen, Frieden, Sicherheit" in einer Kriegssituation wie in der Ukraine in das Handeln vor Ort übersetzen lässt.

Zunächst sprach Liliya Kislitsyna aus Kramatorsk zum Thema "Gender und Krieg". Sie ist u.a. Vorsitzende der Frauenorganisation Smarta und Mitgründerin der 1325-Koalition in der Region Donezk, einem Zusammenschluss von 45 zivilgesellschaftlichen Organisationen. Der Krieg habe nicht erst am 24. Februar 2022 angefangen, sondern bereits mit der ersten Invasion 2014. Die UN-Resolution 1325 „Frauen, Frieden, Sicherheit“ sei im Augenblick eine der wichtigsten für ihre Arbeit, betonte die Referentin. Seit dem ersten und dem zweiten Nationalen Aktionsplan zur Implementierung von 1325 (2016 und 2020) habe sich in Sachen Gleichstellung nicht nur auf gesetzlicher Ebene einiges verändert: Mehr als 20 Prozent der Parlamentsabgeordneten sind heute Frauen, in den Streitkräften machen sie 35 Prozent aus, in der Armee selbst liegt ihr Anteil bei 15 Prozent, darunter auch Offizierinnen, Bataillonschefinnen, zwei Generälinnen und eine berühmte Scharfschützin. Ein hochkarätig besetztes internationales Forum im Jahr 2021 zum Thema "Gender und Armee" habe sich eingehend mit der Bekämpfung der Diskriminierung von Frauen in der Armee, der Umsetzung der kürzlich verabschiedeten "Istanbul-Konvention" (zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt) und der Beteiligung der weiblichen Zivilgesellschaft bei der Konfliktbearbeitung und den Friedensverhandlungen beschäftigt.

"Das einzige, was fehlt, sind Waffen"

"Immer mehr Frauen sind inzwischen an der Front", deren Versorgung habe sich inzwischen stabilisiert, "das einzige, was fehlt, sind Waffen", zitierte Kislitsyna Frontkämpferinnen. Aber auch Schutzwesten und -helme für Frauen, für die die gängige Ausrüstung oft zu groß ist. Hier folgte ein konkreter Aufruf nach Unterstützung. Sorgen bereiten aber auch die über 500 weiblichen Kriegsgefangenen in den Händen der Russen, von denen es keine Nachrichten gibt, sowie die nach Russland verschleppten Menschen, darunter rund 200.000 Kinder. Sexualisierte Gewalt an Frauen, Kindern aber auch Männern sei ein großes Problem in allen Gebieten, in denen die russische Armee gewesen sei. Aktuell werde vom Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag gegen Kriegsverbrechen in der Ukraine ermittelt. In diesem Zusammenhang nannte Kislitsyna noch einmal die Istanbul-Konvention, für deren Umsetzung sich ihre Koalition seit 2021 sehr bemühe und aktuell vor allem Unterkünfte und psychosoziale Hilfe für geflüchtete Frauen aus der Ostukraine organisiere. Tatsächlich wurde die Konvention am 20. Juni 2022, von der Ukraine ratifiziert.

Kislitsyna verwies auch auf das "große Heer der Freiwilligen", das humanitäre Hilfe an allen Fronten leiste. Organisationen und Gruppen, wie Smarta, unterstützen die Frontkämpfer*innen mit allem Notwendigen, "denn fürs Rumsitzen ist jetzt nicht die Zeit, wir müssen unser Land unbedingt zurückholen. Wir werden das Böse besiegen, die Ukraine wiederaufbauen und auf den Weg zur Demokratie fortsetzen", versicherte die Referentin, um ihren Vortrag "in einem positiven Ton zu beenden".

"Der Krieg verändert dramatisch die Gefühle"

Irina Gritsay, Juristin und Dozentin an der Universität Dnipro wies auf die regionale Beteiligung zivilgesellschaftlicher Gruppen an der Entwicklung des Nationalen Aktionsplans 1325 hin. Am Beispiel der Schutzpolizei in ihrer Region erläuterte sie die Integration von Frauen. Von 16.000 Streifenpolizist*innen seien ein Viertel Frauen; sie machten eine wichtige und gefährliche Arbeit. Ebenso wichtig sei der Staatliche Notfalldienst, in dem 11.000 Frauen aktiv seien. Gritsay ist mit anderen engagiert in der Dokumentation von Kriegsverbrechen in der Ukraine. Dazu organisierte sie kürzlich eine internationale Konferenz mit Expert*innen aus vielen Ländern und Organisationen. Gemeinsam wird noch eine Resolution erarbeitet.

Aber Gritsay ist nicht nur Forscherin, sondern auch politische Aktivistin, und weil Politik ohne militärisches Gerüstetsein nicht auskomme, habe sie 2016 beschlossen, eine Ausbildung an der Militärakademie zu absolvieren. Gritsay steht heute als Reservistin im Rang einer Offizierin und erwartet in den kommenden Wochen ihre Einberufung. "Dann werde ich auch mein Land und meine Kinder gegen diese Invasion gegen diesen Terrorismus verteidigen, die so viele Gräuel und Schmerzen verursacht." Der Krieg verändere dramatisch die Gefühle, "er stumpft ab." Sie habe mit vielen Frauen an der Front gesprochen, die ihr von ihrem abgrundtiefen Hass gegen die Invasoren erzählt hätten, nachdem sie Augenzeuginnen ihrer Verbrechen geworden seien. Daher sei es wichtig, schon heute Einrichtungen zu schaffen, in denen Soldat*innen unterstützt würden, um in die "normale" Gesellschaft zurückzufinden.

„Diplomatische Bataillone“

Yuliia Siedaia, Genderforscherin aus Charkiv und Leiterin des Programms "50 Prozent des Erfolgs der Ukraine" ist seit kurzem Stipendiatin der Konrad-Adenauer-Stiftung. Das Stipendium ist bei der EAF Berlin angesiedelt, dort ist Yuliia Siedaia im Rahmen des Projekts "Gemeinsam für Demokratie" tätig. Sie sprach über die Veränderungen der sozialen Rolle von Frauen, die Krieg und Krisen nach sich ziehen. Die ukrainische Frauenbewegung engagiere sich aktiv und gleichberechtigt gegen die Invasion. "Die Frauen stehen Schulter an Schulter mit den Männern an der Front und in der Landesverteidigung", so Siedaia. Frauenorganisationen hätten als eine der ersten ihre neue Rolle im Krieg gefunden, engagierten sich in der humanitären Hilfe, in der Aufrechterhaltung der zivilen Ordnung, besonders auch in Führungsrollen; sie leisteten medizinische Hilfe und hielten als kommunale Abgeordnete und Gemeindevertreterinnen die Stellung. Sie kämpften an der Informationsfront und international in den "diplomatischen Bataillonen". Die Stimmen ukrainischer Frauen seien vor dem Europäischen Parlament und in den Vereinten Nationen zu hören, wo sie die russischen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zur Anklage brächten. Frauen müssten aber noch viel stärker in die Friedensgespräche und Verhandlungen über die Nachkriegsordnung und den Wiederaufbau einbezogen werden. Dort könnten sie eine entscheidende Rolle spielen, denn laut UN liegen die Chancen für ein langfristiges Friedensabkommen um 20 Prozent höher, wenn Frauen bei den Verhandlungen mit dabei sind. Sind mindestens 40 Prozent Frauen daran beteiligt, steigen die Chancen auf 35 Prozent. So Siedaias nachdrückliches Abschlussplädoyer.

Das Netzwerk-Treffen wird mit weiteren Themen fortgesetzt werden. 

 

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