"Ich bin nach wie vor überzeugt, dass wir mehr militärische Unterstützung brauchen"
Von Juni bis Dezember arbeitete sie als Stipendiatin der Konrad-Adenauer-Stiftung bei der EAF. Jetzt kehrt Yuliia Siedaia in ihre Heimatstadt Charkiw zurück.
Yuliia, du bist im Juni 2022 mitten im Krieg aus Charkiw nach Berlin gekommen. Wie war das für dich?
Hinter mir lag eine ziemlich schwierige Entscheidung. Denn ich ließ meine ganze Familie, Freund*innen und Kolleg*innen im Krieg zurück. Mir war aber auch klar, dass mein vorübergehender Aufenthalt in Deutschland eine Gelegenheit sein würde, dem Land und meiner Familie zu helfen.
Inwiefern?
Ich konnte Hilfe für die Ukraine und ihre Bevölkerung mitorganisieren. So nahm ich zum Beispiel teil am Projekt "Wissenschaftler in Gefahr", mit dem 16 Wissenschaftler*innen aus der Region Charkiw finanziell unterstützt wurden. Über das Projekt "Gemeinsam für Demokratie" halfen wir der Universität Dnipro beim Kauf von Betten für Binnenvertriebene, die die Universität aufgenommen hatte. Wir halfen bei der Beschaffung von lebenswichtigen Gütern für die Bevölkerung der Region Donezk. Der Besuch von Führungsfrauen aus Politik und Verwaltung aus dem Osten und Süden der Ukraine führte zu neuen Kontakten und zu weiterer Unterstützung von Gemeinden. Für die Zukunft ist ein Projekt zwischen dem Universitätsklinikum der Charité in Berlin und dem Charkiwer Regionalkrankenhaus geplant. Gleichzeitig hatte ich mir zur Mission gemacht, über die Geschehnisse in der Region Charkiw seit dem russischen Angriffskrieg zu informieren.
Dafür boten dir die zahlreichen Kontakte, die du in die deutsche Politik, Zivilgesellschaft und Wissenschaft geknüpft hast, viel Gelegenheit.
Tatsächlich habe ich in vielen Gesprächen, Diskussionen und Konferenzen eine Art Imformationsschlacht geführt, um die Wahrheit über die Ukraine und ihren Kampf um Unabhängigkeit zu verbreiten.
Was nimmst du aus diesem Austausch mit?
Erfreulich ist, dass sich während meines Aufenthalts in Deutschland nicht nur die Meinung der deutschen Öffentlichkeit zugunsten der Ukraine verändert hat, sondern auch die der deutschen Spitzenpolitiker *innen. Da sind die Erklärungen von Bundeskanzler Olaf Scholz zur Unterstützung der Ukraine, besonders dankbar bin ich aber Außenministerin Annalena Burbock für ihre starke und unerschütterliche Position zur Unterstützung der Ukraine und vielen anderen Mitgliedern des Bundestages und des Europäischen Parlaments für ihre unschätzbare Hilfe. Ich möchte auch daran erinnern, dass der Deutsche Bundestag am 30. November 2022 die Resolution zur Anerkennung des Holodomor als Völkermord am ukrainischen Volk verabschiedet hat. Damit ist Deutschland das 19. Land der Welt, das einen solchen Beschluss gefasst hat.
Du hast während deines Aufenthalts auch eine Studie über Frauen in den Streitkräften der Ukraine durchgeführt. Was kannst du darüber erzählen?
Die Ergebnisse stehen kurz vor der Veröffentlichung und ich will nicht vorgreifen. Nur so viel: Ich konnte diese Arbeit mit finanzieller Unterstützung der Konrad-Adenauer-Stiftung durchführen und unter anderem damit warme Unterwäsche für Frontkämpferinnen besorgen.
Hat sich deine Sicht auf die Kriegssituation in der Ukraine durch deine Arbeit und den Aufenthalt in Berlin verändert?
Nein. Ich bin nach wie vor überzeugt, dass wir mehr militärische Unterstützung brauchen, politische allein reicht nicht. Gleichzeitig sehe ich, wie aufrichtig die deutsche Gesellschaft die Ukraine und ihre Menschen unterstützt sowohl diejenigen, die sich hier in Deutschland aufhalten, als auch diejenigen, die in der Ukraine unter Kriegsbedingungen leben. Gleichzeitig wünsche ich mir, dass die Ukrainer*innen trotz der unglaublich schwierigen Zeiten mehr Verantwortung für das übernehmen, was sie von internationalen Partnern erwarten.
Du kehrst zu deiner Familie nach Charkiw zurück. Mit welchen Gefühlen und Gedanken verlässt du Berlin und die EAF?
Mit unglaublicher Dankbarkeit. Generell möchte ich mit den Mythen über Deutschland und die deutsche Gesellschaft aufräumen. Die Deutschen sind ehrliche und offenherzige Leute, die wirklich bereit sind, zu helfen. Sie respektieren persönliche Grenzen und sind gut erzogen, obwohl sie ziemlich bürokratisch sind. Ich habe mich zwar vor allem unter Menschen meines Kultur- und Bildungsniveaus bewegt, da stimmten Wertesystem und Weltanschauung überein, aber selbst in den Institutionen, bei denen ich die entsprechenden Dokumente besorgen musste, wie zum Beispiel bei der Ausländerbehörde, beim Bezirksamt oder bei der Bank, spürte ich Respekt.
Von der ersten Minute meines Aufenthaltes an haben mich meine Kolleginnen unter ihre Fittiche genommen - aufrichtig und freundlich: vor allem Helga Lukoschat, aber auch alle anderen EAF-Mitarbeiterinnen. Das ganze Büro hatte sich auf meine Ankunft vorbereitet. Ich spürte jeden Tag ihren Schutz und ihre Unterstützung; ich fühlte mich nie einsam oder verloren. Besonders erwähnen möchte ich auch Brigitta Triebel, die Leiterin des Charkiwer Büros der Konrad-Adenauer-Stiftung. Ihr hochprofessionelles Verständnis der osteuropäischen Politik, unsere Dialoge und Diskussionen in Charkiw, haben mich letztlich veranlasst, nach Deutschland zu kommen. Dort habe ich in sehr kurzer Zeit viele Erfolge erzielt und ein professionelles soziales Kapital fast aus dem Nichts aufgebaut. Ich freue mich also auf die weitere Zusammenarbeit.
Der Winter in der Ukraine ist hart, und wir hören täglich von neuen Angriffen aller Orten auf die kritische Infrastruktur. Was erwartet dich bei deiner Rückkehr nach Charkiw?
Durch den ständigen Beschuss durch die Russen gibt es in der Region Charkiw wie auch in der gesamten Ukraine häufig keinen Strom, kein Wasser und keine Kommunikation. Obwohl die lokalen Behörden unermüdlich arbeiten, kommen sie oft nicht hinterher. Ich bringe viele Dinge mit wie Kerzen, Batterien, Powerbanks u.a., die meinen Nächsten helfen werden, den schrecklichen Winter zu überstehen. Die Freude über das Wiedersehen mit meinen Lieben und die Hoffnung auf den Sieg geben mir aber Zuversicht und Standhaftigkeit, selbst angesichts dieses furchtbaren Krieges.
Yuliia Siedaia ist Partnerin im Projekt "Gemeinsam für Demokratie". Die promovierte Sozialwissenschaftlerin war Beraterin im Regierungsbezirk Charkiw für die Schwerpunktthemen Gender Equality und Gesundheit und zudem in der "Academia of Women Leadership" aktiv. Von Juni bis Dezember 2022 arbeitete sie als Stipendiatin der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) in der EAF Berlin. U.a. führte sie eine Studie über Frauen in den Streitkräften der Ukraine durch, in der sie die rechtlichen Fortschritte bei der Gleichstellung aber auch die geschlechtsspezifischen Stereotype in der männlich geprägten Militärkultur untersuchte.