„Bescheidenheit und Stillschweigen sind unsere größten Feinde“
Den Ton für das Arbeitstreffen setzte Kateryna Gipenko, Botschaftsrätin der ukrainischen Vertretung in Berlin, gleich zur Begrüßung: Ihr Land habe längst kein „Männergesicht“ mehr. Der fortdauernde Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine habe das Geschlechterverhältnis spürbar verändert. So seien beispielsweise über 50 Prozent der Gemeinde- und Stadträte inzwischen von Frauen besetzt. An dieser „zweiten Front“ brächten sie vollen Einsatz für den Sieg und den Wiederaufbau des Landes.
Von diesen „Heimatfrontkämpferinnen“ hatten sich zwanzig aus verschiedenen Regionen der Ukraine auf den Weg nach Berlin gemacht: Bürgermeisterinnen größerer und kleinerer Gemeinden, ihre Stellvertreterinnen, Leiterinnen und Mitarbeiterinnen aus Verwaltungseinheiten, Mitglieder von Gemeinde- und Regionalräten, Vertreterinnen zivilgesellschaftlicher Frauenorganisationen.
Zwei Tage, vom 19. bis 20. Oktober, standen sie und ihre Fragen im Mittelpunkt: Wie kann ich selbstwirksamer werden, überzeugender auftreten, an meinem öffentlichen Auftritt arbeiten? Mit einfachen Fragen und Übungen aus dem Trainingsbereich des Selbstmarketings wurden teilweise sehr persönliche und emotionale Antworten zu Tage gefördert; erstaunliche Erfolge wurden offenbar, Widerstandskraft spürbar, aber auch immer wieder Selbstzweifel und -kritik. Doch dominierten – kriegsbedingt – die Durchhalteparolen.
Macht zu handeln
„Jeder kommt auf die Welt, um diese besser zu machen.“ Dieses Credo teilte Ludmyla Prokopechko, Bürgermeisterin der Gemeinde Dobroslav im Oblast (Verwaltungsbezirk) Odessa, mit der Runde. Sie ist stolz darauf, dass sie mit über neunzig Prozent der Stimmen in ihr Amt gewählt wurde und eine unangefochtene kommunale Führungsfrau ist. Yevheniia Bardiak, Mitglied im Regionalrat des Oblast Ivano-Frankivsk, plädierte dafür, die Lebenszeit in „etwas Großes“ zu investieren. Doch stellte sie fest, dass „unsere Frauen in der Ukraine viel zu viel arbeiten.“ Halyna Biletska, Bürgermeisterin der Gemeinde Andrushivka im Oblast Schytomyr, berichtete stolz, dass sie bereits dreimal hintereinander in ihrem Amt bestätigt worden sei. Ihre Arbeit sei schwer und verantwortungsvoll, besonders jetzt im Krieg. Doch „Bescheidenheit und Stillschweigen sind unsere größten Feinde.“ Natalya Deliyeva aus Odessa, Mitgründerin und Vorsitzende der Frauenorganisation „Diya“ beschrieb, wie sich ihre Auffassung von Macht verändert hat. Während sie früher damit einen Gegenstand wie eine Krone oder ein Zepter assoziiert habe, sei Macht für sie heute die „Fähigkeit, zu handeln, die Möglichkeit, etwa zu bewegen“.
Häusliche Gewalt von großer Brisanz
Zugleich ging es um konkrete Themen (gleichstellungs-)politischer Arbeit. Als Gesprächspartnerinnen kamen die Geschäftsführerin des Frauenrats von Schleswig-Holstein, Alexandra Ehlers, und die Gleichgestellungsbeauftragte von Berlin Mitte, Kerstin Dobrick, zu Besuch, um über die Rahmenbedingungen und die Praxis ihrer Arbeit in Kommune und Bundesland zu informieren. Es ging um die gesetzliche Verankerung, Finanzierung und Umsetzung von Frauen- und Gleichstellungspolitik in Deutschland, insbesondere aber um die Bekämpfung von häuslicher und Partnergewalt. Ein Thema, das auch für ukrainische Kommunen von großer Brisanz ist, denn der Krieg hat dort die Zahlen der Gewalttaten in die Höhe schnellen lassen. In einigen Regionen, wie zum Beispiel im Oblast Kyiv wurde bereits eine Hotline für häusliche Gewalt eingerichtet, andere Gemeinden planen Beratungszentren. Auch die Arbeit mit den Tätern ist für die ukrainische Seite relevant. Zu diesem Problemkomplex wurde ein weiterer deutsch-ukrainischer Erfahrungsaustausch vereinbart, der zeitnah erfolgen soll.
Städtefreundschaften
Wichtig war auch das Thema „Städtefreundschaften“ – ein Grundpfeiler des Projekts „She Can“. Denn die Funktionsfähigkeit und die Resilienz der ukrainischen Kommunen sind eine wesentliche Voraussetzung, um den Krieg zu überstehen und das Land nach demokratischen Prinzipien wiederaufzubauen.
Vier der auf dem Seminar vertretenen Gemeinden stehen bereits mit deutschen Gemeinden in Kontakt. Für eine fünfte ukrainische Gemeinde sucht die EAF noch eine Partnerschaft. Nun gilt es, diese Kontakte mit konkreten Vorschlägen für die Zusammenarbeit und den Austausch zu füllen. Von ukrainischer Seite gibt es eine breite Palette von Ideen und Wünschen an die deutschen Partnerinnen: Kultur- und Jugendaustausch, Hardware für Schulen, Schulbusse, medizinische und sozialpsychologische Reha-Maßnahmen, Unterstützung der Kinder von Binnengeflüchteten.
Die Welt darf sich nicht abwenden
Am Ende waren sich die Teilnehmerinnen einig, dass diese zwei Tage, weit weg vom Krieg und ganz konzentriert auf sich selbst, eine wertvolle Auszeit waren. Diese Zeit fehle im Alltag, sei aber immer wieder notwendig, „um sich neu zu erfinden,“ lautete ein Feedback. „Wir haben uns gegenseitig daran erinnert, worin wir stark sind und was wir können,“ sagte eine Teilnehmerin. „Nur eine Frau schaut auf die Welt durch das Prisma der Erneuerung“, formulierte es eine andere poetischer.
In den vielstimmigen Dank an die Organisatorinnen von EAF Berlin und Austausch e.V. mischte sich aber auch eine Ermahnung: „Das alles hier macht nur Sinn, wenn die ganze Welt uns weiterhin unterstützt“, appellierte Bürgermeisterin Prokopechko aus Dobroslav. Die Befürchtung, dass die Ukraine angesichts des Krieges in Nahost aus dem Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit gerät, ist groß. Auch dagegen helfen persönliche Begegnungen und Partnerschaften.
Fotogalerie
Wir haben einige Impressionen von dem Treffen zusammengestellt (Bilder: EAF Berlin).