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“Die erste feministische Revolution ist möglich“

Im Iran kämpfen Menschen gesellschaftsübergreifend für ein freies Leben. EAF-Expert Tannaz Falaknaz zur aktuellen Lage

Seit mehreren Wochen gehen die Menschen im Iran auf die Straße – angeführt von Frauen. Sie kämpfen schicht-, ethnien-, geschlechts- und generationsübergreifend für ein freies und gutes Leben. Und immer wieder um IHR Leben. Denn was sie fordern, ist nicht nur revolutionär, sondern auch strafbar im Gottesstaat Iran. Es geht um den Sturz der Islamischen Republik.

22. Oktober 2022, Berlin: Meine Mutter und ich sind zwei von 80.000 Menschen, die um die Siegessäule stehen. Wir sind auf der größten Demonstration zur Solidarität mit den protestierenden Menschen im Iran, die es im Ausland gegeben hat. Die größte Demonstration, auf der ich jemals war. So viele Menschen, so viele Iraner*innen, die aus ganz Europa und teils weltweit angereist sind, habe ich noch nie gesehen. Für mich ist es besonders hier mit meiner Mutter zu stehen: Sie hatte 1995 den Mut, aus feministischen Gründen mit mir aus dem Iran zu fliehen. Heute erhoffen wir unsere heutigen Freiheiten auch für die Menschen dort. Immer wieder ist in Chören Azadi! - Freiheit zu hören. Frau, Leben, Freiheit steht auf vielen Schildern. Jin, Jiyan, Azadi ist zum Slogan der Proteste geworden, die derzeit die Lage im Iran prägen. Ausgelöst durch den Tod der Kurdin Jina Mahsa Amini durch die Gewalt der Sittenpolizei Mitte September. Dass der Fall öffentlich wurde ist dem Mut der Familie, nicht zu schweigen und dem Mut zweier Journalistinnen, über den Fall zu berichten, zu verdanken. Niloufar Hamedi und Elahe Mohammadi sitzen für ihre Veröffentlichungen immer noch im Gefängnis. Ihnen droht die Todesstrafe. In der Stadt der getöteten 22-jährigen kam es im September zu den ersten Protesten, die sich über das ganze Land ausweiteten und noch heute andauern.

Das Recht auf Selbstbestimmung und ein freies und gutes Leben

„Ich habe gesehen, dass im Iran Menschen gegen das Kopftuch auf die Straße gehen. Ich hoffe, Deine Familie ist okay“, fragt mich ein Freund. Meine Familie ist okay, die Menschen gehen aber nicht gegen das Kopftuch auf die Straße, sondern u.a. für die Freiheit, entscheiden zu dürfen, ob sie das Kopftuch tragen wollen. Um die Frauenrechte im Iran ist es nicht gut gestellt: Frauen sind vor Gericht weniger wert. Ihre Aussagen zählen nur halb so viel, wie die von Männern. Vergewaltigungen und Gewalt in der Ehe stehen nicht unter Strafe, das Scheidungsrecht benachteiligt Frauen und räumt ihnen weniger Rechte und Entscheidungen ein. Das Sorgerecht für Kinder erhält nicht selten automatisch der Mann, wenn das Kind das siebte Lebensjahr vollendet hat. Tanzverbote, Singverbote, Verbote, Stadien zu besuchen, gar Präsidentin oder Richterin zu werden, gegen all das gehen die Menschen auf die Straße. Der Protest ist jedoch noch viel mehr als der Wunsch nach Gleichberechtigung. Denn immer, wenn es um Frauenrechte geht, geht es auch um Menschenrechte.

Das Ende der Islamischen Republik vor Augen

Während der Proteste sind schon mehr als 200 Menschen gestorben, darunter auch Kinder. Tausende sind inhaftiert, von anderen wiederum weiß man gar nicht, wohin sie verschleppt worden sind.  Vergewaltigungen finden in den Gefängnissen systematisch statt. Und doch machen die Menschen weiter. Es fehle an einer Führungsfigur und einer Alternative, wird im Westen oft argumentiert. Doch für die Menschen stellt sich diese Frage nicht. Es geht den Menschen in erster Linie um das Ende der derzeitigen Lage. Zum ersten Mal geht es nicht punktuell um Wahlbetrug, steigende Preise oder z.B. Dürre. Zum ersten Mal geht es nicht um Reformen. Es geht um den Willen der Bevölkerung, die Islamische Republik zu stürzen.

Die erste feministische Revolution ist möglich

Proteste gab es in den letzten Jahrzehnten viele im Iran. Mal größere, mal eher kleinere. Und doch unterscheidet sich diese von den anderen Protesten. Nicht nur, weil der Sturz der Islamischen Republik erstmalig Ziel der Proteste ist. Zum ersten Mal nach Einführung der Islamischen Republik 1979 kommen alle Geschlechter, alle Ethnien, alle gesellschaftlichen Schichten und alle Altersgruppen gemeinsam auf die Straße. In allen Provinzen des Landes. Protestieren gehen im Iran bedeutet, nicht zu wissen, ob man abends wieder nach Hause kommen wird. Und doch nehmen die Proteste seit mehr als einem Monat nicht ab. Angeführt von Frauen. Nicht wenige fordern, schon von Beginn einer Revolution zu sprechen. Es könnte die erste feministische Revolution der Welt sein.

Auch im Westen: Nicht wegschauen, sondern aktiv werden

Wir im Westen sollten nicht nur Zeugi*innen dieser Revolution sein. Jede*r ist gefragt, nicht wegzuschauen, sondern aktiv zu werden: Demonstrationen, Petitionen, Schreiben an Abgeordnete, Teilen über Social Media. Aber auch über den Iran informieren und sprechen. Wir haben jetzt die Möglichkeit, Feminismus global zu denken und aktiv zu werden. Jetzt ist die Chance zu zeigen, dass wir feministische Außenpolitik nicht nur wollen, sondern leben. Die Menschen im Iran wollen, dass wir im Ausland ihre Stimmen sind. Stimme sein erfordert Aktivismus. Und in diesen Zeiten ist Aktivismus nicht nur gefragt, sondern unsere feministische Pflicht.    

„Maman, so viele Iraner*innen werden wir nie wieder an einem Ort sehen“, stelle ich für mich fest, als wir am Samstag auf dem Weg nach Hause sind. Noch immer überwältigt davon, wie viele Menschen auf der Demonstration waren. „Doch, werden wir“, erwidert meine Mutter. Ein sanfter Hoffnungsschimmer weht durchs offene Haar.

Veröffentlicht am: | Autorin : Tannaz Falaknaz

Tannaz Falaknaz wurde im Iran geboren und ist 1995 mit ihrer Mutter geflüchtet. Sie engagiert sich bei der iranischen Gemeinde.

Die EAF Berlin steht solidarisch an der Seite mit allen Menschen, die im Iran für Menschenrechte und gegen Unterdrückung kämpfen.

Wir fordern alle auf: Wir sollten nicht nur Zeug*innen sein, sondern aktiv werden und eine Stimme der Demonstrierenden im Iran sein: Indem wir darüber sprechen und informieren, demonstrieren, Petitionen unterschreiben, Schreiben an Abgeordnete schicken oder Inhalte über Social Media teilen. Jetzt ist die Chance zu zeigen, dass wir feministische Außenpolitik nicht nur wollen, sondern leben.

Autorin
Tannaz Falaknaz

Tannaz Falaknaz ist als Senior Expert für Politik, Verwaltung und Diversität im Team der EAF Berlin tätig.

Mehr über Tannaz Falaknaz

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